Der Fruehling des Commissario Ricciardi
geben – finde ich es sehr töricht, sich Ärger, und zwar großen Ärger, einzuhandeln, nur weil man seine Ansichten gern öffentlich bekannt gibt. Denk lieber daran, wie viele Menschen dich und deine Arbeit noch brauchen.«
»Du hast recht. Das ist es nicht wert. Soll unser blödes Volk sich doch nach Strich und Faden verscheißern lassen, wenn’s ihm gefällt. Vielleicht ist der Moment, in dem wir unseren unumkehrbaren Prozess in Gang gesetzt haben, bereits vorbei.«
XLI
Schon als er in die Gasse eingebogen war, hatte er sie an der Tür stehen und genau in seine Richtung schauen sehen. »Brigadiere, schön, dass Sie da sind«, hatte sie gesagt. »Ich habe auf Sie gewartet.«
Auf ihn gewartet hatte sie also. Dabei war er fast zufällig vorbeigekommen.
»Sie sehen müde aus. Bestimmt hatten Sie einen anstrengenden Tag. Setzen Sie sich, ich mache Ihnen etwas zu essen.«
»Oh, bitte keine Umstände«, hatte er geantwortet. »Ich kann zu Hause essen.«
»Ich weiß«, hatte sie gesagt. »Ein kleiner Imbiss kann trotzdem nicht schaden.«
Und so hatte er plötzlich am Tisch gesessen, vor einer einfachen Pasta mit Tomatensoße, die ihm allerdings vorzüglich schmeckte. Er hatte auch von seinem Tag erzählt, von der Calise und Iodice, natürlich ohne Namen zu nennen. Und von Ricciardi, seinem merkwürdigen Vorgesetzten, um den er sich sorgte wie um einen Sohn.
Dann hatte er, ohne es recht zu merken, angefangen, über Luca zu reden, und ihm war aufgefallen, dass er das eigentlich nie tat. Als er seine eigenen Worte hörte, spürte er einen stechenden Schmerz, erkannte, was er bereits wusste, nämlich, dass es Dinge gab, mit denen man sich nicht abfinden konnte, dass das Leben aber trotzdem weitergehen musste.
Filomena lauschte ihm mit leuchtenden Augen, lächelte oder war gerührt. Es tat gut, mit ihr zu reden und jemanden zu haben, der zuhörte.
Irgendwann kam Gaetano von der Arbeit und Filomena deckte auch für ihn. Ein dunkler, schweigsamer Junge, doch wohlerzogen und intelligent: Das erkannte Maione anhand einiger weniger Bemerkungen. Gaetano stellte ihm Fragen zu seiner Arbeit bei der Polizei und er sprach mit ihm sehr offen und ein wenig schwermütig darüber.
Ohne dass er es merkte, senkte sich Stille über die Gasse. Er zog die alte Uhr aus der Tasche und stellte fest, dass es schon fast elf war. Daraufhin stand er auf, um sich zu verabschieden und für die Mahlzeit zu danken, und fügte unwillkürlich hinzu: »Wir sehen uns morgen«. Filomena antwortete ihm mit einem strahlenden Lächeln.
Als Maione seinen Nachhauseweg fortsetzte, wusste er nicht recht, ob er fröhlich oder traurig war.
Ricciardi hatte Angst davor, nach Hause zu gehen. Auch das war ein neues Gefühl: Der Wunsch nach Unbeschwertheit, der ihn jeden Abend ans Fenster führte, war einer Beklemmung gewichen. Es war spät. Iodices Tat und die Pizza mit Modo hatten ihm erlaubt, den Zeitpunkt seiner Heimkehr hinauszuzögern. Aber nun, da er zu Fuß inRichtung Santa Teresa und seiner Wohnung lief, befürchtete er, dass das Fenster gegenüber geschlossen bleiben würde. Um ihn auszusperren, im Dunkeln zu lassen.
Er verwünschte die Ermittlungen und seine Arbeit, die ihn so plötzlich mit Enrica konfrontiert und ihn dazu veranlasst hatten, ihr unwillentlich den nötigen Respekt zu versagen. Wie zornig sie gewesen war! Er hatte es an den zusammengekniffenen Lippen und ihrem funkelnden Blick abgelesen. Die Anspannung in ihrem Rücken, den sie ihm zuwandte, als sie zur Tür schritt, sah er immer noch vor sich.
Dazu kam noch die Sorge, dass sie krank sein könnte. Sein analytisch denkendes Gehirn zog natürlich auch die Möglichkeit in Betracht, dass es sich bei dem Kranken um ein Familienmitglied, einen Freund handeln könnte. Wie sehr er sich wünschte, sie trösten zu können.
Während seine Schritte in der verlassenen Straße widerhallten, die an Baustellen voller Toter entlangführte, wurde ihm allerdings auch bewusst, dass er an sie jetzt als an eine Frau aus Fleisch und Blut dachte. Zuvor war Enrica das Symbol einer Traumwelt, die Schöpfung eines unerreichbaren Planeten gewesen; jetzt sah er Lippen, Augen, Haut und Schultern vor sich. Auch ihre Hände, das Kleid, die Tasche, die Schuhe. Er roch an sich den zarten Lavendelduft, den er so gierig eingesogen hatte, nachdem sie sein Büro verlassen hatte. Und er hörte den Klang ihrer Stimme, sanft, doch entschlossen. Plötzlich hatte er eine unbändige Lust, sich ans Fenster zu stellen.
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