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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Er nahm zwei Stufen auf einmal.

    Enrica hatte ihr Zimmer erst verlassen, als die anderen mit dem Abendessen fertig waren. Sie sagte, dass sie sich ein wenig besser fühle, und schaute mehrmals zu dem dunklen Fenster des Hauses von gegenüber, immer nur ganz kurz und aus den Augenwinkeln. Obwohl das Herz ihr bis zum Hals schlug, war sie sorgfältig darauf bedacht, sich weder anders zu bewegen noch in irgendeiner Weise anders auszusehen als sonst. Schließlich knipste sie die Lampe an und setzte sich zum Sticken auf ihren Sessel.
    Halb zehn, viertel vor zehn. Zehn. Jedes Mal, wenn die Standuhr im Esszimmer schlug, zog sich ihr Herz ein wenig mehr zusammen und die Angst schnürte ihr den Atem ab. Viertel nach zehn, halb elf. Sie zählte beim Sticken bis sechzig und begann dann noch einmal von vorn. Viertel vor elf: Noch eine Minute, dann stehe ich auf. Noch eine. Noch nie, nicht ein einziges Mal im ganzen letzten Jahr hatte er sich so sehr verspätet. Das Fenster erschien ihr wie ein Abgrund ohne Boden.
    Sie legte ihr Stickzeug aus der Hand – lange Zeit nachdem sie gehört hatte, wie die Schlafzimmertür ihrer Eltern geschlossen wurde. Dann schaltete sie das Licht aus. Ihre Wangen waren tränennass.
    Sie schloss die Fensterläden, dachte daran, wie erbärmlich einsam sie war.
    Genau im selben Moment erhellte sich das Fenster gegenüber.

    In seiner Schreibtischschublade bewahrte der stellvertretende Polizeipräsident Angelo Garzo einen Spiegel auf. Der Beamte maß nämlich seinem Äußeren das entsprechende Gewicht bei, schließlich beruhte darauf ein Großteil seiner Karriere.
    Außerdem war er der Ansicht, dass die Stellung einer Person nicht nur von einem vorteilhaften Erscheinungsbild – das bei ihm seit kurzem von einem schmalen Schnurrbart unterstrichen wurde, der sein ganzer Stolz war –, sondern auch vom Status abhing: eine stets wachsende Familie, zwei große Kinder und eines unterwegs, eine schöne Frau, die am gesellschaftlichen Leben teilnahm und bezüglich deren Untadeligkeit keinerlei Zweifel bestanden; dass sie außerdem noch die Nichte des Präfekten von Salerno war, dem eine vielversprechende Laufbahn bevorstand, konnte sicher nicht schaden. Die Pflege gesellschaftlicher Beziehungen nahm bei ihm schon fast wahnwitzige Dimensionen an: Bei allen Ereignissen, Vorstellungen oder Konzerten saß der Vizepräsident in der zweiten Reihe, lächelnd und im Glanze einer Garderobe, die dem Anlass stets angemessen war. Seinem Vorgesetzten, dem Präsidenten, den er von ganzem Herzen hasste und auf dessen Posten er geduldig und diskret wartete, brachte er die gebotene Aufmerksamkeit und Ehrfurcht entgegen.
    Doch vor allem – und darin war er unübertroffen – verfügte er über die angeborene Fähigkeit, Machtverhältnisse schnell und richtig vorherzusehen. So wählte er stets unfehlbar die richtige Seite der Barrikade und gehörte am Ende zu den Gewinnern; allerdings bevorzugte er eine bequeme Position im Hintergrund, von der aus er den anderen, falls nötig und ohne großen Schaden zu nehmen, auch wieder den Rücken zukehren konnte.
    Nachdem er das Wachstum seines Schnurrbarts so sorgfältig wie ein Blumenzüchter die Orchideen kontrolliert hatte, legte er den Spiegel zurück in die Schubladeund ließ seinen Blick zufrieden über sein Büro schweifen. Es wirkte wie das Arbeitszimmer einer Luxuswohnung, ganz anders als die anderen Räume des Präsidiums. Die Einrichtung bestand aus Ledersesseln und -sofas und Möbeln aus dunklem Holz. In den Regalen standen nie angerührte, gleichwohl imposante Bücher mit Rücken aus bordeauxrotem Leder, das farblich exakt zum Inventar passte. An den Wänden hingen Familienfotos und gerahmte Orden; die Portraits des Königs und des Duce thronten am vorgeschriebenen Ehrenplatz.
    Er war sich darüber im Klaren, dass er alles andere als ein guter Polizist war, und doch sah er sich als notwendiges Bindeglied zwischen Polizei und Institutionen an, vor denen er große Ehrfurcht hatte. Fähige und zielstrebige Leute hatte er auf seinem Weg nach oben schon viele kennengelernt: Sie strampelten immer noch im Schlamm der kleinen Provinzpräfekturen, er hatte sie alle hinter sich gelassen. Die Hauptbegabung, die einzig notwendige sogar, bestand doch darin, die Untergebenen im Griff zu haben; je komplizierter sie waren, desto größer das Verdienst.
    Mit einem Seufzer dachte er an Ricciardi. Er war sein bester Mitarbeiter: jung, intelligent, fähig. Der geeignetste, wenn es um die Lösung

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