Der Frühling - Hyddenworld ; 1
auch die traurigen Worte meines Herrn und die Erinnerung an einen verflossenen Frühling.«
Lord Festoon erzählte die Geschichte in groben Zügen, und Parlance schmückte sie mit Details aus.
Als Festoon zehn Jahre alt war, entschlüpfte er eines Tages der Dienerin, die ihn beaufsichtigte, und fand sich allein im Freien wieder. Er gelangte an den River Rea, angezogen von einem klatschenden Geräusch. Es war ein Küchenjunge namens Parlance, der flache Steine, die er am Ufer fand, übers Wasser hüpfen ließ.
»Es war ein wahrlich zauberhafter Tag«, erinnerte sich Festoon, »der erste Frühlingstag, an dem die Sonne sanft das erste neue Leben streichelt und die Luft, die lange rauh war von der Winterkälte, sich wieder erwärmt.«
Die beiden Jungen ließen sich von dem herrlichen Tag verzaubern, wanderten am Fluss entlang bis zum Waseley Hill, jenem grünen Hügel, aus dem der Fluss als kleine Quelle entsprang.
»Wir waren den ganzen Tag und den halben Abend draußen, bevor die Bediensteten meiner Mutter – mein Vater war bereits tot – mich fanden. Meine Geschwister waren alle jung gestorben, und auch ich war ein schwächliches Kind, darum war sie um meine Gesundheit und Sicherheit übertrieben besorgt. Ich wurde streng gescholten, aber das war nicht die schlimmste Strafe. Ich bekam Arrest und durfte von dem Tag an nie wieder nach draußen gehen oder den Jungen treffen, in dessen Gesellschaft ich zum ersten Mal in meinem Leben wahre Freundschaft empfunden hatte.
Von da an verkehrte ich mit ihm nur noch durch die Speisen, die er mir heimlich aus der Küche schickte und die er eigenhändig zubereitet hatte, um an die Bilder und Geräusche jenes Frühlingstags zu erinnern, die wir wahrgenommen hatten oder wahrgenommen zu haben glaubten. Seine Speisen waren wie ein Hoch auf unsere Freundschaft, und mein Gegengeschenk an ihn war, dass ich sie genoss und mir neue Rezepte ausdachte.«
»Und Sie sind nie wieder ins Freie gegangen?«, fragte Katherine erstaunt.
»Nein … und als ich größer wurde, wurde ich natürlich dick, und dann fett und …«
»Wenn ich doch nur gewusst hätte, was ich meinem Herrn damit antat«, jammerte Parlance, »aber ich war ahnungslos und niemand sagte es mir, bis er fettleibig war. Da war es zu spät. Von da an kochte ich, um ihn zu trösten, und er aß, um mich zu trösten.«
Festoon wedelte mit den Händen über seinem tonnenförmigen Leib und seinen baumstammdicken Beinen und sagte einfach nur: »Genau das war es, zu spät, und ich konnte nicht mehr tun, was ich mir so sehr wünschte. Aber ich wurde entschädigt. Parlance verfeinerte seine Künste, sein Genie kam zum Vorschein, so wie meines in puncto Geschmack und Ideen. Nachdem wir im kulinarischen Sinn den Frühling erobert hatten, breiteten wir unsere gestutzten Flügel aus und erforschten auch die anderen Jahreszeiten. Ich nahm weiter zu.
Als meine Mutter starb und ich das Amt des Hochaltermanns übernahm, ließ ich zuallererst Parlance zu mir kommen. Er weinte, als er sah, was aus mir geworden war.«
Katherine stand ungeduldig auf.
»Aber … Sie hätten doch … Sie beide hätten doch … es wäre doch möglich gewesen …«
»Sagen Sie mir jetzt bitte nicht, ich solle einfach weniger essen. Das haben schon viele getan. Wenn ich es tue, verliere ich die einzige Freude, die mir geblieben ist. Wenn ich es tue, sterbe ich. Und für wen soll Parlance, der ein wahres Genie auf seinem Gebiet ist, dann kochen?«
»Aber haben Sie denn keine Lust, den richtigen Frühling zu erleben?«
Festoon überlegte. Parlance auch.
»Mehr als alles andere, abgesehen von einer Sache vielleicht, und nicht einmal bei der bin ich mir sicher.«
»Was für eine Sache?«
»Ich würde gern den verlorenen Stein des Frühlings in meinen Händen halten. Dann könnte ich sterben und in dem Gefühl, ein erfülltes Leben gehabt zu haben, in den Spiegel aller Dinge zurückkehren.«
»Und wenn daraus nichts wird?«
»Dann möchte ich noch einmal die Orte besuchen, die wir, als wir jung waren, nur so flüchtig gesehen haben.«
»Was geschieht«, fragte Katherine, »wenn Sie durch die Tür gehen, auf der ›Frühling‹ steht, Lord Festoon? Sie haben gesagt, dass unsere Träume dahinterliegen.«
»Das vermute ich. Aber für mich ist es nur ein Traum, und es ist besser, es bleibt dabei. Ich kann mich ja nicht einmal ohne Hilfe von meinem Thron erheben, geschweige denn den großen leeren Raum durchqueren, der zwischen ihm und der Tür liegt
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