Der Frühling - Hyddenworld ; 1
Brücke eines Dampfschiffs des neunzehnten Jahrhunderts.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Raum zu. Zuerst hatte sie ihn für kreisrund gehalten, nun aber, da sie darin umherging, merkte sie, dass sie sich geirrt hatte. Er war achteckig.
Die acht Wände waren unterschiedlich groß. Vier waren nichtbreiter als die darin eingelassenen Türen, während die vier Wände zwischen ihnen viel breiter und mit Bildteppichen behängt waren, auf denen Katherine Darstellungen von Frühling, Sommer, Herbst und Winter entdeckte.
Auf jeder Tür stand der Name einer Jahreszeit in einer golden schimmernden, gotisch anmutenden Schrift, die jeweils mit einem Schatten in der passenden Farbe unterlegt war: Frühling mit Grün, Sommer mit Goldgelb, Herbst mit Rotbraun und Winter mit Grau. Sonst aber wirkten die Türen alt, sogar schmutzig, waren stellenweise mit Spinnweben bedeckt und hatten schwarz angelaufene Messingklinken. Sie sahen aus, als seien sie seit Jahren oder gar Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden.
»Vielleicht seit Jahrhunderten!«, murmelte Katherine vor sich hin.
Lord Festoon hörte es und rief: »Nicht ganz so lang, meine Liebe, aber ganz bestimmt lang genug!«
Als sie sich zu ihm umdrehte, um ihn etwas zu den Türen zu fragen, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass er und sein Podest jetzt in eine andere Richtung blickten als zuvor. Sie begriff, dass das Podest drehbar war, wahrscheinlich ebenfalls per Knopfdruck, sodass Festoon die Wandteppiche betrachten konnte, ohne sich bewegen zu müssen.
Trotzdem wunderte sie sich, wie weit er sich in der kurzen Zeit von ihr weggedreht hatte. Der Raum spielte den Sinnen Streiche, und nicht nur was Proportionen und Entfernungen anging, sondern auch in Bezug auf die Zeit.
Dann geschah noch etwas Seltsames. Als sie dorthin zurückkehrte, wo sie eben hergekommen war, nämlich zur Tür des Sommers, stellte sie fest, dass sich der Name auf der Tür geändert hatte. Jetzt stand dort Frühling, und als sie sich umdrehte, sah sie, dass auf der Tür, von der sie soeben kam, jetzt Sommer stand.
Sie ließ Türen Türen sein und sah sich die Bildteppiche an den Wänden dazwischen genauer an. Sie waren kunstvoll mit Pflanzen- und Tiermotiven bestickt.
Der Teppich zwischen den Türen für Frühling und Sommer zeigte auf der linken Seite Bilder von Schneeglöckchen in schmelzendem Schnee, auf der rechten Seite hingegen gelb und blau blühenden Augentrost. Der nächste Teppich, zwischen den Türen für Sommer undHerbst, führte das Thema mit den ersten zartrosa Weinrosen fort, deren Blätter in der Sommersonne leuchteten. Dort jedoch, wo er an die mit »Herbst« beschriftete Tür grenzte, änderte sich die Flora entsprechend. Welke Nesseln bestimmten das Bild, Schlehen präsentierten ihre schwarzblauen Früchte, und darunter schmiegten sich Aronstäbe mit ihren orangeroten Beeren in den feuchten Schatten.
»Dann bilden die Teppiche also eine Abfolge«, murmelte sie, »und auf jedem ist das Ende einer Jahreszeit und der Beginn der darauf folgenden dargestellt.«
»Ganz recht!«, rief Lord Festoon fröhlich.
Er saß jetzt wieder mit dem Gesicht zu ihr, während sich Arthur auf dem türkischen Teppich vor dem Podest räkelte und aus einem prächtigen goldenen Becher trank.
»Bedien dich«, sagte er liebenswürdig und deutete auf ein Tablett, auf dem weitere Becher und ein dazu passender Krug standen.
»Später, danke«, sagte sie und wandte sich wieder dem Teppich zu.
Sie kannte die meisten Blumen, aber nicht alle Tiere, die sich zwischen ihnen tummelten. Bei ihrem Anblick bekam sie Heimweh und dachte an verflossene Tage in Woolstone, als es ihrer Mutter noch besser ging und sie solche Dinge gemeinsam erleben konnten – Tage, die nicht wiederkommen würden. Trauer und Wehmut stiegen in ihr auf.
Da fiel ihr auf, dass die Blumen der Jahreszeiten den Blick in eine bestimmte Richtung lenkten, nämlich von links nach rechts, vom Frühling zum Sommer und weiter zum Herbst, während die Landschaften, die auf den Teppichen dargestellt waren, das Auge in die entgegengesetzte Richtung wandern ließen.
In der rechten oberen Ecke jedes Teppichs war eine Gebirgslandschaft zu sehen, die nach links unten abfiel und zunächst in ein Vorgebirge überging, dann in Hochmoore und Heiden und schließlich in freundliche Wälder und Täler mit Weiden, bis die linke untere Ecke erreicht war, wo auf jedem Teppich das Meer lag.
Diesem natürlichen Weg vom Gebirge zum Meer folgte ein
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