Der Fuenf-Minuten-Philosoph
habe den Atheismus eine Zeit lang ausprobiert, aber mein Glaube war einfach nicht stark genug.«
Der Agnostiker gilt bisweilen als ein Abwartender, der sich nicht entscheiden kann. »Sei kein Agnostiker, sei etwas!«, verlangte der amerikanische Dichter Robert Frost (1874–1963). Ein Atheist ist klar und eindeutig »etwas«, aber er hat über dieses »Etwas« hinaus eine Botschaft, die mit einem Bekenntnis und einer neuen Mission einhergeht. Atheisten haben den Mut entwickelt, ihr »Evangelium«, ihre »Frohe Botschaft« zu verbreiten, die manche so glaubenseifrig wie jeder fundamentalistische Religionsanhänger verkünden. Jeder, so wird unterstellt, müsse zum Atheismus bekehrt werden, Kinder ab dem Grundschulalter und in allen staatlichen Institutionen. Wir brauchen offenbar auch hier eine »Taufe«, bei der wir im kalten und klaren Wasser der Vernunft vollständig untergetaucht werden. Der englische Schriftsteller William Ernest Henley (1849–1903) verschaffte dieser »schönen neuen Welt« des Atheismus bereits eine Hymne in Form seines Gedichts ›Invictus‹ (Unbezwungen):
Was macht’s ob die Pforte schmal,
Wie voll von Strafen das Lebensbuch,
Ich bleibe meines Schicksals Herr:
Der Kapitän meiner Seele bin ich.
Eine solche Mission erfordert bekanntlich Mut. Und der Weg wurde bereits von verschiedenen Herrschaftssystemen beschritten, die Religionen mitsamt ihren Gläubigen zu eliminieren versuchen. Die historischen Lehren lassen ahnen, was ein atheistischer »Evangelikalismus« anrichten könnte. Er würde das Aus für die kreative Koexistenz von weltlichen und religiösen Anschauungen bedeuten und zu einer Erosion des Pluralismus religiöser Kulturen führen. Und wenn am Ende nachgewiesen würde, dass es Gott nicht gibt und Metaphysik nur eine fantasievolle Mär ist, die man in einer »herangereiften« Gesellschaft fahren lassen kann, entstünde ein anhaltendes Gefühl der Leere. Und weil das Bedürfnis nach Religiosität bestehen bliebe, würde sich Voltaires Feststellung bestätigen: Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.
Atheist sein erfordert Mut. Der amerikanische Satiriker,Schriftsteller und TV-Moderator Stephen Colbert (* 1964) hat wahrscheinlich recht: »Ist ein Agnostiker nicht einfach ein Atheist ohne Mumm?«
Können wir mit dem Verstand allein leben?
Würden wir nur mit dem Verstand leben, fiele das Leben eintönig und seelenlos aus. Der Verstand ist ein geistiges Können, zu dem weitere Fähigkeiten hinzukommen: Erst in Kombination mit dem Gefühl, der Fantasie, der Intuition und dem Irrationalen ermöglicht er uns ein Leben im umfassendsten Sinn. Der Literaturkritiker und Schriftsteller Cyril Connolly (1903–1974) formulierte es so: »Ein auf Vernunft beruhendes Leben braucht als Gegengewicht immer eine gelegentliche heftige und irrationale Aufwallung an Emotionen, weil die Triebe ihren Tribut verlangen.« Unsere Frage enthält allerdings indirekt den Hinweis, dass der Verstand unsere wichtigste Fähigkeit ist. Und mehr noch: dass wir ihn vielleicht gerade auf die Erfahrungen stützen sollten, die ihn scheinbar untergraben, da der Verstand doch nahelegt, dass Irrationales falsch sei. Martin Luther hielt ihn für den Feind des Glaubens. Und Benjamin Franklin (1706–1790) meinte: »Um durch den Glauben zu sehen, muss man das Auge des Verstandes schließen.«
Diese Spannung zwischen Verstand und Glauben markiert einen Dualismus, der in der westlichen Kultur für eine Spaltung in den Anschauungen sorgt – für die schon erwähnte »unüberbrückbare« Kluft zwischen Gut und Böse, Geist und Fleisch usw. Problematisch wird es da, wo die verschiedenen Arten der Wahrnehmung aufs jeweils andere Territorium übergreifen. Ist es vernünftig, den Verstand dazu zu bringen, dass er sich auf den Glauben stützt? Sollte der Verstand ins Wirken unserer Fantasie eingreifen? Sollte er zum Beispiel zu einem Gestaltungsprinzip der Kunst erhoben werden? Hier muss unterschieden werden zwischen dem Verstand, der Dinge rational auf empirischer Basisüberprüft, und dem Verstand als Ursache für Entscheidung. Katholiken, orthodoxe Juden oder Scientologen mögen sich deswegen an ihren jeweiligen Glauben binden, weil sie ein psychisches Bedürfnis nach Autorität, klaren Strukturen und vorgegebenen Antworten haben, aber sie glauben nicht deswegen an die Unfehlbarkeit des Papstes, die Unantastbarkeit des Gesetzes oder an Ron Hubbards (1911–1986) Dianetik. Die Gründe für diese Überzeugungen
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