Der Fürst des Nebels
Arbeit.«
Seine Mutter lächelte schwach, wie sie es immer tat, wenn Maximilian Carver seinen strahlenden Optimismus verbreitete. Doch Max sah in ihren Augen einen Anflug von Traurigkeit und jenen sonderbaren Glanz, der ihm von Kindheit an das Gefühl gegeben hatte, seine Mutter könne etwas in der Zukunft erkennen, was die anderen nicht ahnten.
»Alles wird gut ausgehen, Mama«, sagte Max und fühlte sich wie ein Dummkopf, kaum daß er diese Worte ausgesprochen hatte.
Seine Mutter streichelte ihm die Wange und lächelte ihn an.
»Natürlich, Max. Alles wird gut ausgehen.«
Plötzlich spürte Max, daß ihn irgend jemand beobachtete. Er drehte schnell den Kopf und sah, wie zwischen den Eisengittern eines der Fenster des Bahnhofsgebäudes eine große getigerte Katze hervorschaute und ihn eingehend betrachtete. Es war, als könne sie seine Gedanken lesen. Die Katze blinzelte, und mit einem behenden Sprung, der für ein Tier von solcher Größe überraschend war, näherte sie sich der kleinen Irina und rieb ihren Rücken
gegen deren Fußknöchel. Das Mädchen kniete sich nieder, um das Tier zu streicheln, das sanft miaute. Irina nahm die Katze auf den Arm. Diese ließ sich ruhig wiegen und leckte dabei zart die Finger des Mädchens, das entzückt war darüber und übers ganze Gesicht strahlte. Mit der Katze auf ihrem Arm ging Irina hinüber zu ihrer Mutter und den Geschwistern.
»Wir sind noch nicht richtig angekommen, und schon hast du so ein Katzenvieh gefunden. Wer weiß, was die alles mitbringt«, sagte Alicia mit sichtlichem Ekel.
»Das ist kein Vieh. Das ist eine Katze, und sie ist einsam«, widersprach Irina. »Mama?«
»Irina, wir sind noch nicht einmal im Haus angekommen«, sagte ihre Mutter abwehrend.
Das Mädchen verzog Mitleid heischend das Gesicht, und die Katze ließ ein bezauberndes Miauen hören.
»Sie kann im Garten wohnen. Bitte...«
»Das ist eine fette und schmutzige Katze«, wandte sich Alicia an die Mutter. »Willst du zulassen, daß Irina wieder ihren Dickkopf durchsetzt?«
Irina warf ihrer älteren Schwester einen scharfen Blick zu, der eine Kriegserklärung versprach, falls sie den Mund nicht bald halten würde. Alicia ertrug den Blick einige Sekunden lang, dann drehte sie sich mit einem wütenden Seufzer um und ging zu dem Ort, wo die Träger gerade das Gepäck aufluden. Auf dem Weg begegnete sie ihrem Vater, der ihr gerötetes Gesicht sofort bemerkte.
»Gibt es schon Streit?« fragte Maximilian Carver. »Was ist los?«
Doch bevor Alicia antworten konnte, meldete sich schon Irina und zeigte ihrem Vater die Katze in ihren Armen. »Sie ist allein und verlassen. Können wir sie nicht mitnehmen? Sie wird im Garten wohnen, und ich werde für sie sorgen. Ich verspreche es.«
Der Uhrmacher sah verdutzt erst die Katze an und dann seine Frau.
»Ich weiß nicht, was deine Mutter dazu sagt...«
»Und was sagst du, Maximilian Carver?« entgegnete seine Frau mit einem belustigten Lächeln. »Nun ja. Man müßte sie zum Tierarzt bringen, und außerdem...«
»Bitte«, jammerte Irina.
Der Uhrmacher und seine Frau wechselten einen Blick geheimen Einverständnisses.
»Also gut, warum nicht«, lenkte Maximilian Carver ein; er wollte den Sommer nicht mit einem Familienstreit beginnen. »Aber du wirst dich um sie kümmern. Versprochen?«
Irinas Gesicht leuchtete auf, und die Pupillen der Katze verengten sich, bis sie sich wie schwarze Zeiger vor dem goldenen und glänzenden Zifferblatt ihrer Augen abzeichneten.
»Kommt! Los geht's! Das Gepäck ist schon aufgeladen«, sagte der Uhrmacher.
Irina rannte mit der Katze auf den Armen zu den Lieferwagen. Das Tier hatte den Kopf auf ihre Schulter gelegt und hielt die Augen starr auf Max gerichtet. Sie hat uns erwartet, dachte er.
»Bleib hier nicht wie angewurzelt stehen, Max. Los geht's«, drängte sein Vater, der die Mutter an der Hand hielt und schon auf dem Weg zu den Lieferwagen war.
Max folgte ihnen.
Doch gleich darauf blieb er wieder stehen. Irgend etwas zwang ihn, sich umzudrehen und erneut auf das schwarze Zifferblatt der Bahnhofsuhr zu schauen. Er betrachtete es sorgfältig, denn es gab da etwas, das ihm nicht gefiel. Max erinnerte sich genau daran, daß die Uhr bei ihrer Ankunft am Bahnhof auf halb eins gestanden hatte. Jetzt deuteten die Zeiger auf zehn vor zwölf.
»Max!« ertönte die Stimme seines Vaters, der ihn vom Lieferwagen her rief. »Wir fahren!«
»Ich komme schon«, murmelte Max vor sich hin, ohne den Blick vom Zifferblatt zu wenden.
Die Uhr war
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