Der Fürst des Nebels
Sand. Victor Kray suchte Alicias Puls an ihrem Handgelenk, doch Max zog die zittrige Hand des Alten weg.
»Sie ist am Leben. Señor Kray«, erklärte Max. Während er die Stirn seiner Schwester streichelte. »Sie ist am Leben.«
Der Alte nickte und überließ Alicia Max' Fürsorge. Vor Erschöpfung hin und her schwankend wie ein Soldat nach einer langen Schlacht, lief Victor Kray zum Meeresufer und ging ins Meer hinein, bis das Wasser seine Taille bedeckte.
»Wo ist mein Roland?« murmelte der Alte und drehte sich zu Max um. »Wo ist mein Enkel?«
Max schaute ihn schweigend an, und er sah, wie die Seele des armen alten Mannes erlosch. Die Kraft, die ihn in all den Jahren oben auf dem Leuchtturm aufrechterhalten hatte, zerrann wie eine Handvoll Sand zwischen den Fingern.
»Er wird nicht zurückkehren, Señor Kray«, antwortete der Junge schließlich, mit Tränen in den Augen. »Roland wird nicht mehr zurückkehren.«
Der alte Leuchtturmwärter sah ihn an, als könne er seine Worte nicht begreifen. Dann nickte er, aber er wandte den Blick zurück zum Meer, in der Hoffnung, daß sein Enkel doch noch aus dem Wasser auftauchen würde. Langsam beruhigte sich das Wasser und ein Kranz aus Sternen flammte am Horizont auf. Roland kehrte nie mehr zurück.
Kapitel 18
A m Tag nach dem Unwetter, das die Küste während der langen Nacht des 23. Juni 1943 verheerte, kamen Maximilian und Andrea Carver zurück in das Haus am Strand, zusammen mit der kleinen Irina, die außer Gefahr war, auch wenn sie noch einige Wochen brauchen würde, um sich vollständig zu erholen. Die starken Winde, die bis kurz vor Tagesanbruch über das Dorf gepeitscht waren, hatten eine Spur aus umgestürzten Bäumen und Strommasten hinterlassen; Boote waren vom Meer bis zur Strandpromenade geschwemmt worden, und bei einem Großteil der Häuser im Dorf waren die Fensterscheiben zerbrochen. Alicia und Max warteten schweigend vor dem Haus. Als Maximilian Carver aus dem Wagen stieg, der sie von der Stadt hergefahren hatte, sah er an ihren Gesichtern sofort, daß etwas Schreckliches geschehen sein mußte.
Noch bevor er die erste Frage stellen konnte, gab Max' Blick ihm zu verstehen, daß alle Erklärungen Warten müßten bis später – falls es überhaupt welche geben würde. Was auch immer geschehen sein mochte. Maximilian Carver konnte auch ohne alle Worte erkennen, daß für seine beiden Kinder ein Abschnitt in ihrem Leben zu Ende gegangen war, der nie wiederkehren würde.
Bevor er das Haus am Strand betrat, schaute Maximilian Carver lange in Alicias Augen, die ihm wie ein unergründlicher Brunnen erschienen. Sie betrachtete geistesabwesend die Horizontlinie, als erhoffe sie von ihr die Lösung aller Fragen, die ihr niemand beantworten konnte, weder ihr Vater noch irgendwer sonst. Maximilian Carver wurde plötzlich bewußt, daß seine Tochter älter geworden war. Eines Tages, es war nicht mehr lange hin, würde sie einen neuen Weg einschlagen, auf der Suche nach ihren eigenen Antworten.
Der Bahnhof war in eine Dampfwolke getaucht, die die Lokomotive ausgestoßen hatte. Die letzten Reisenden beeilten sich, in die Waggons zu steigen und sich von den Familienangehörigen und Freunden zu verabschieden, die sie bis zum Bahnsteig begleitet hatten. Max betrachtete die alte Uhr, die ihn im Dorf willkommen geheißen hatte, und er stellte fest, daß ihre Zeiger jetzt ganz und gar stehengeblieben waren. Der Gepäckträger näherte sich Max und Victor Kray mit fordernd ausgestreckter Hand, um sein Trinkgeld in Empfang zu nehmen.
»Die Koffer sind schon im Zug, Señor.« Der alte Leuchtturmwärter reichte ihm ein paar Münzen, die der Junge, während er sich entfernte, sogleich zu zählen begann. Max und Victor Kray tauschten ein Lächeln, als hätten sie gerade etwas Lustiges erlebt oder als wäre dies nur ein ganz gewöhnlicher Abschied.
»Alicia konnte nicht kommen, weil...« begann Max.
»Es ist nicht nötig. Ich kann das verstehen«, fiel ihm der Leuchtturmwärter ins Wort, »Grüß sie von mir. Und paß auf sie auf«
»Das werde ich tun«, erwiderte Max.
Der Bahnhofsvorsteher ließ seine Pfeife ertönen.
Der Zug war im Begriff loszufahren.
»Werden Sie mir nicht sagen, wohin Sie gehen?«
fragte Max und deutete auf den Zug, der auf den Schienen wartete.
Victor Kray lächelte und streckte dem Jungen seine Hand entgegen.
»Wohin ich auch gehen mag«, antwortete der Alte, »ich werde diesen Ort niemals wirklich verlassen können.«
Die Pfeife ertönte erneut.
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