Pastetenlust
1
Es war
Dienstag und Palinski hatte fast bis 4 Uhr morgens gearbeitet. Draußen war es
bereits hell geworden, als er sich endlich zu Bett begeben hatte. Jetzt war es
kurz vor 7 Uhr und er war schon wieder wach. Zwangsläufig, denn das
gleichermaßen muntere wie auch enervierende Gezwitscher einer Amsel hatte ihn
schon bald nach Beendigung der ersten Tiefschlafphase geweckt und der Lärm des
einsetzenden Frühverkehrs ein neuerliches Einschlafen verhindert.
Palinski setzte die Kaffeemaschine in Gang, schob die
Vorhänge zur Seite und riskierte einen ersten Blick in den neuen Tag. Der
Ausblick vom Fenster der ehemaligen Hausmeisterwohnung, in der sich sein
Wohnbüro befand, war nicht gerade überwältigend, aber beruhigend vertraut. Der
zur Straße hin offene Innenhof war begrünt und das war gut für seine müden
Augen. Eine alte, vom früheren Mieter des Geschäftslokals an der Ecke
gestiftete Parkbank bildete den Mittelpunkt der kleinen Oase und ermöglichte
Palinski die Vorstellung eines eigenen Gartens. ›Seines Gartens‹, in dem er
häufig saß und mitten in der Großstadt seine Seele baumeln lassen konnte.
Leicht irritiert stellte er fest, dass ›seine Bank‹ trotz der frühen Stunde
bereits besetzt war. Etwas, was grundsätzlich nur selten vorkam, für diese
Tageszeit aber ein absolutes Novum bedeutete.
Das Objekt seiner Aufmerksamkeit, ein Mann, lag auf der
linken Seite in Fötushaltung und schien zu schlafen. Palinski war ziemlich
sicher, dass es sich bei dem Schläfer um denselben Mann handelte, den er
bereits in der Nacht gesehen hatte. Allerdings sitzend und in inniger Umarmung
mit einer Blondine. Palinski hatte sich noch gewundert, dass das gutgekleidete
Paar um 3 Uhr morgens keinen geeigneteren Platz für den Austausch von Zärtlichkeiten
gefunden hatte. Aber bitte, ›Chacun a son gout‹. Heute war Dienstag, ein
Dienstag im Frühling, auch wenn der noch auf sich warten ließ, dachte sich
Palinski. Das bedeutete unter anderem, dass die fleißigen Männer der
städtischen Müllabfuhr schon bald ihres Amtes walten würden. Vor allem aber
würde Frau Pitzal, die rührige Hausmeisterin in Kürze auftreten. Um die Leerung
der dunkelgrauen, mit den täglichen Resten der menschlichen Zivilisation
randvoll gefüllten Behältnisse kritisch zu überwachen. Wie ehedem der
Generaltruppeninspektor den Aufmarsch seiner Truppen im Manöver. Palinski
konnte sich nicht erinnern, dass die gute Frau auch nur einen einzigen Auftritt
der Müll-Truppe in den letzten fünfzehn Jahren versäumt hätte. Der unbekannte
Schläfer hatte also keinerlei Chance, seinen Schlaf noch länger als höchstens
zehn Minuten fortzusetzen. Dann erwarteten ihn unweigerlich das Rumpeln
schwerer, über mehrere Stufen bewegter Mistkübel sowie eine hochnotpeinliche
Befragung durch Frau Pitzal.
Männliche Solidarität und ein Anflug von Mitleid mit dem
offenbar erschöpften Liebenden auf der Bank vor seinem Fenster veranlassten
Palinski zu einem recht unorthodoxen Schritt. Rasch goss er frischen Kaffee in
zwei Häferln, stopfte sich den Zuckerstreuer, eine Tube Kondensmilch und zwei
Kaffeelöffel in die Taschen seines Bademantels und verließ seine ebenerdig
gelegene Wohnhöhle. Nicht ohne noch schnell die Schlüssel einzustecken.
Wenige Sekunden später stand er vor dem still daliegenden
Unbekannten. „Guten Morgen, ich denke, Sie sollten jetzt langsam aufstehen“,
versuchte er, den Mann mit halblauter Stimme zu wecken. Nach mehreren, trotz
gesteigerter Lautstärke erfolglosen Versuchen stellte Palinski die beiden
Behältnisse mit dem nachtschwarzen Lebenselixier am Boden ab und begann, den
Mann an den Schultern zu rütteln. Zunächst ganz vorsichtig, dann immer stärker,
doch vergeblich.
Irgendetwas stimmte da nicht, das spürte Palinski, und zwar
absolut nicht. Er legte dem Mann die Hand auf die Stirne. Eiskalt. Dann
versuchte er, so etwas wie einen Puls und damit Anzeichen noch vorhandenen
Lebens zu finden. Seine Bemühungen an Hals und Handgelenk blieben aber
erfolglos. Langsam verdichtete sich der Verdacht zur erschreckenden Gewissheit.
Der Mann auf der Bank war tot, mausetot und das wahrscheinlich schon einige
Zeit. Palinski stand zum ersten Mal in seinem Leben vor einer echten Leiche und
das gefiel ihm ganz und gar nicht.
„Gutn Morgn, Herr Palinski“, unbemerkt hatte sich Frau Pitzal
von hinten angeschlichen. „Wos mocht denn da Herr do?“
„Der Herr da macht gar
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