Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
würde. Und das war zunächst nicht sonderlich beängstigend: Erica lag auf dem Bett, blass, ja, als hätte sie Fieber, und ihre Haare waren seit einiger Zeit nicht mehr gewaschen worden, doch sie schien guter Laune zu sein. Sie klopfte auf den Platz neben sich und bot mir, als ich mich setzte, ihre Stirn zum Kuss.
Wir unterhielten uns eine Weile, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen und als begegneten wir uns unter völlig normalen Umständen. Ich erzählte ihr von meinem Projekt in New Jersey – von der negativen Reaktion der Angestellten der Kabelfirma auf unsere Anwesenheit, von Jims Ratschlägen – und von den alltäglichen Begebenheiten in meinem Leben, seit sie mich zuletzt gesehen hatte. Sie erzählte mir von ihrem Arzt und ihren Medikamenten, wie sie es ihr erschwerten, sich zu konzentrieren, und wie ihr die Tage so dahingingen, ohne dass sich etwas ereignete. Angesichts der entspannten Art, mit der sie das beschrieb, hätte man es einem Beobachter nachsehen können, wenn er ihren Zustand für nicht ernst gehalten und sie auf dem Wege der Besserung gesehen hätte – bis ich sie nach ihrem Roman fragte.
Sogleich bedauerte ich es. Ihre Augen begannen umherzuschweifen, und ihre Stimme wurde weniger sicher: »Irgendwie kann ich nicht daran arbeiten«, sagte sie. »Jedes Mal, wenn ich es versuche, rege ich mich nur auf. Und die Anrufe meines Agenten habe ich gar nicht entgegengenommen. Der Ärmste. Bestimmt hält er mich für verrückt.« Ich bemerkte, man wisse ja von Autoren, dass sie exzentrisch seien, daher sei es unwahrscheinlich, dass ihr Agent besonders beunruhigt sei, dann wollte ich das Thema wechseln, doch sie ließ es nicht zu. »Es hilft mir nicht mehr«, sagte sie. »Es hat mir immer geholfen, das Schreiben, wenn etwas rausmusste, was in mir festsaß. Aber ich krieg’s nicht mehr raus. Es zieht mich hinein, verstehst du? Ich grüble darüber nach, statt darüber zu schreiben.« Ich versuchte die Frage zu unterdrücken, was mit es gemeint sei – ob ich glaubte, es würde sie aufwühlen oder vielmehr mich, weiß ich jetzt nicht mehr –, aber ich schaffte es nicht. »Es geht darum, ob noch etwas übrig ist«, erklärte sie, plötzlich beunruhigend gefasst, »oder ob alles schon passiert ist.«
Wie kann ich Ihnen beschreiben, Sir, wie sehr ihre Worte mich mit Sorge erfüllten? Sie wandte den Blick ab, und ich sah, wie sie sich in sich zurückzog. Ich legte meine Hand neben ihre in der Hoffnung, sie, wie schon zahllose Male zuvor, aus ihren Gedanken zu locken. Ich sah, wie unsere Haut – meine gesund und braun, ihre ein fahles Weiß – durch eine Entfernung, nicht größer als die Breite eines Verlobungsrings, getrennt war, doch sie nahm mich gar nicht wahr. Ich wartete, dass meine Nähe sich ihr mitteilte; so verging eine Minute. Dann zog sie ihre Hand weg und legte sie, ohne auch nur in meine Richtung zu schauen, über die andere in ihren Schoß.
Als kurz darauf Ericas Mutter hereinkam, hatte ich nicht das Gefühl, dass sie etwas unterbräche. Nein, sie verhinderte keineswegs die Fortsetzung eines Gesprächs zwischen ihrer Tochter und mir, sie beendete lediglich meine Störung eines Gesprächs, das Erica mit Chris führte – eines Gesprächs, das auf einer Ebene stattfand, die ich nicht erreichen oder auch nur richtig erkennen konnte. Erica winkte mir zum Abschied, als ich ihr Zimmer verließ, doch sie tat es mit abgewandtem Gesicht, so dass ich ihrem Blick nicht begegnen konnte. Ihre Mutter dankte mir, dass ich gekommen war, und bat mich, mit einem Besuch zu warten, bis Erica sich von selbst meldete. Und damit und mit einem sanften Kuss auf die Wange schloss sie die Fahrstuhltür vor mir, und ich fuhr den Schacht hinab, allein.
Ich kehrte in meine Wohnung zurück und verbrachte die Nacht im Halbdunkel, im Schein der Stadtlichter, der durch meine Fenster hereindrang, und ich fragte mich, so wie ich mich noch Monate später fragte – ja, manchmal noch bis zum heutigen Tag –, wo Ericas Reise hinging. Ich habe nie erfahren, was ihren Verfall auslöste – war es das Trauma des Angriffs auf ihre Stadt? Dass sie ihr Buch auf der Suche nach einem Agenten herumschickte? Waren es die Echos, die unsere gemeinsame Nacht in ihr auslöste? Alles zusammen? Nichts davon? –, aber ich glaube, ich wusste schon damals, dass sie in eine machtvolle Nostalgie verschwand und nur sie selbst bestimmen konnte, ob sie daraus wieder zurückkehrte.
Denn es war klar, dass Erica etwas brauchte, das ich –
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