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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamed
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ich aufzustehen und zum Kühlschrank zu gehen, doch sie schlief tief, wie ein Kind, und schließlich ging ich doch. Ich aß nur Brot und trank nur Wasser, ein fades Mahl, doch ich aß und trank weiter, bis mein Bauch voll war, und als ich wieder ins Bett ging, war es, als hätte ich eine straff gespannte Trommel umgeschnallt, die mich zwang, mich auf die Seite zu legen.
    In dem Dunkel um uns herum und dem ausdruckslosen Umriss Ihres Gesichts ist es kaum zu erkennen, Sir, aber ich vermute, dass Sie mich mit einer gewissen Abscheu betrachten; ich jedenfalls würde Sie so ansehen, wenn Sie mir gerade so etwas erzählt hätten. Aber ich hoffe, Ihr Ekel hat Ihnen nicht den Appetit verdorben, denn ich will gerade den Kellner rufen, damit er unsere Bestellung aufnimmt. Ich kann Ihnen versichern, dass unser Mahl alles andere als fade sein wird – da kommt er auch schon. Hallo!

8
    Irgendetwas, Sir, muss an unserem Kellner sein, das Sie weiterhin beunruhigt. Ich gebe zu, er ist ein einschüchternder Bursche, größer noch als Sie. Doch die Härte seines wettergegerbten Gesichts lässt sich leicht erklären: Er stammt aus unserem gebirgigen Nordwesten, wo das Leben alles andere als einfach ist. Und falls Sie meinen, er habe eine Abneigung gegen Sie, so möchte ich Sie bitten, darüber hinwegzusehen; das Gebiet seines Stammes erstreckt sich zu beiden Seiten unserer Grenze mit dem benachbarten Afghanistan, und er hat unter den Offensiven gelitten, die Ihre Landsleute durchgeführt haben.
    Ob er betet, fragen Sie? Nein, Sir, keineswegs! Was er da aufsagt – rhythmisch, formelhaft, aus dem Gedächtnis und aus diesem Grund in der Tat einem Gebet nicht unähnlich –, ist in Wirklichkeit der Versuch, unsere Speisefolge zu übermitteln, ganz so, wie man in Ihrem Land die Tagesgerichte gesagt bekommt. Hier gibt es natürlich keine Tagesgerichte; das hervorragende Haus, dessen Gäste wir heute Abend sind, bereitet aller Wahrscheinlichkeit nach seit vielen Jahren immer die gleichen Gerichte zu. Ich könnte es Ihnen übersetzen, aber vielleicht ist es besser, wenn ich ein paar Köstlichkeiten auswähle, die wir beide uns dann teilen. Wollen Sie mir diese Ehre gewähren? Vielen Dank. So, schon erledigt, und weg ist er.
    Ich hatte Ihnen von meiner Unruhe in der Nacht erzählt, als ich schließlich mit Erica schlief – eine Nacht, die, hätten wir eine normalere Beziehung gehabt, eine große Freude hätte sein sollen. Sie ging noch vor Tagesanbruch. Schreckte aus dem Schlaf hoch und wollte trotz meiner Bitten, doch zu bleiben, unbedingt nach Hause. Erneut verging eine ganze Weile, bis ich wieder von ihr hörte; meine Anrufe wurden nicht entgegengenommen, meine Nachrichten nicht beantwortet. Ich hatte meine Lektion gelernt und unterließ weitere Bemühungen, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Doch nachdem zwei Wochen verstrichen waren, versuchte ich es erneut und wurde mit einer Antwort belohnt. Sie entschuldigte sich wie zuvor, dass sie auf diese Weise verschwunden sei, sagte, sie halte es für das Beste, vielleicht für sie, aber ganz gewiss für mich, wenn wir versuchten, einander nicht zu oft zu sehen, und sie entsprach meiner Bitte um ein Treffen. »Aber komm zu mir«, sagte sie, »mir ist nicht nach Weggehen.«
    An Ericas Wöhnungstür begrüßte mich ihre Mutter; sie geleitete mich in ein Vorzimmer – in dem zwischen antikem Zierrat auch ein Bonsai und ein Cembalo standen – und sagte: »Ich glaube, wir sollten uns einmal unterhalten. Erica hat Ihnen ihre Geschichte erzählt, oder?« Ich nickte. »Nun, ihr Zustand hat sich wieder verschlechtert. Es ist ernst. Im Moment braucht sie Stabilität. Keine Gefühlsaufwallungen, Sie verstehen? Sie sind ein netter junger Mann, und ich weiß, dass Sie ihr etwas bedeuten. Aber Sie müssen einsehen, dass sie im Augenblick krank ist. Sie braucht einen Freund, einen platonischen.« Sie schaute mich flehend an. »Ich verstehe, Madam«, sagte ich. »Ich will tun, was Ihrer Meinung nach das Beste für sie ist.« »Danke«, sagte sie. Dann lächelte sie und fügte hinzu: »Man versteht sofort, warum sie Sie mag.«
    Dieses Gespräch hinterließ einen tiefen Eindruck auf mich, weniger das, was sie sagte – auch wenn mich diese düstere Charakterisierung von Ericas Zustand bestürzte –, sondern vielmehr, wie sie es sagte; die Tonlage von Ericas Mutter war stille Verzweiflung, und das machte mir Angst. Zögernd betrat ich Ericas Zimmer und versuchte mich dagegen zu wappnen, was dort auf mich zukommen

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