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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamed
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den Wänden hingen eindrucksvolle, kraftvolle Kunstwerke, darunter, wie mir auffiel, eine nicht unbeträchtliche Anzahl nackter Männer.
    Jim krempelte sich die Ärmel hoch und fragte, während der Fisch brutzelte, was mir auf der Seele liege. Ich saß auf einem Hocker, von ihm getrennt durch die Bar seiner offenen Küche, die auch als Essfläche fungierte. »Nichts weiter«, sagte ich. »Ist Ihre Familie nicht zu Hause?« Sichtlich amüsiert wandte er sich mir zu und sagte: »Ich bin nicht verheiratet.« »Ach, keine Kinder?« »Keine Kinder«, bestätigte er. »Aber Sie weichen meiner Frage aus.« »Wie meinen Sie das?«, fragte ich. »Sie sind in letzter Zeit nicht mehr Sie selbst«, sagte er, »etwas beschäftigt Sie. Etwas nagt an Ihnen. Müsste ich raten, würde ich sagen, es ist Ihre pakistanische Seite. Es bedrückt Sie, was auf der Welt vor sich geht.« »Nein, nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf, um jeden Verdacht zu zerstreuen, dass meine Loyalität so geteilt sein könnte. »Zu Hause sind sie ein bisschen beunruhigt, aber das gibt sich wieder.« Er schien nicht überzeugt. »Ist mit Ihrer Familie alles klar?«, fragte er. »Ja«, sagte ich, »danke.« »Na gut«, sagte er, »aber wie ich schon erwähnte, ich weiß, wie es ist, Außenseiter zu sein. Wenn Sie also mal jemanden zum Reden brauchen, sagen Sie Bescheid.«
    Ich verließ Jims Wohnung in der Hoffnung, ihn von der Fährte abgelenkt zu haben. Dennoch erschreckte es mich, wie durchschaubar ich offensichtlich war; Jim war ein besonders aufmerksamer Beobachter, aber wenn meine inneren Konflikte für ihn sichtbar waren, dann waren sie es vielleicht auch für andere. Ich hatte von Diskriminierungen gehört, denen Muslime in der Geschäftswelt zunehmend ausgesetzt waren – Geschichten von widerrufenen Stellenangeboten und grundlosen Entlassungen –, und ich wollte meine Stellung bei Underwood Samson nicht gefährden. Zudem wusste ich, dass unsere Firma, wie auch weite Teile unserer Industrie, infolge der Angriffe vom September einen starken Auftragsrückgang zu verzeichnen hatten, und Wainwright hatte mir von einem Gerücht erzählt, dass Personalstreichungen bevorstünden.
    Unser Projekt bei der Kabelfirma kam zu einem guten Ende – in dem Sinne, dass wir erhebliche Kostenersparnisse ausmachten und unser Klient über die Gründlichkeit unserer Bewertung erfreut war –, aber am Tag meiner Dezemberprüfung war ich ein nervöser junger Mann. Wie sich herausstellte, hätte ich mir keine Sorgen zu machen brauchen. Zwei der sechs Analysten aus meiner Eingangsklasse – diejenigen an fünfter und sechster Stelle – gehörten tatsächlich zu den Angestellten, die unsere Firma gehen ließ. Ich dagegen war, wie Jim mir mitteilte, wieder die Nummer eins; man verlieh mir sogar eine anteilige Prämie, die nach den Maßstäben unseres Berufsstands zwar nicht üppig, aber angesichts der zu erwartenden mageren Zeiten doch recht großzügig ausgefallen war. Sie befähigte mich, meine ausstehenden Studiendarlehen voll zurückzuzahlen und auch noch ein paar Tausender beiseitezulegen. Ich hätte eigentlich bester Stimmung sein sollen, doch zu Beginn der Woche hatten Bewaffnete das indische Parlament überfallen, und statt mein Glück zu feiern, war ich damit konfrontiert, dass mein Land möglicherweise bald im Krieg stand.
    Meine Mutter sagte, ich solle nicht kommen, mein Vater im Wesentlichen dasselbe. Doch mithilfe eines Tickethändlers in der Seventh Avenue und weil ich mir plötzlich die Business-Plus-Klasse der PIA leisten konnte, flog ich zu genau der Zeit Lahore entgegen, da die New Yorker noch in letzter Minute Geschenke kaufen und man Paare sieht, die sich auf der Straße küssen und dabei hübsche kleine Büsche in ihre Wohnung schleifen, um sie dort als Weihnachtsbaum aufzustellen. Im Flugzeug saß ich neben einem Mann, der sich – sehr zu meinem Missfallen – die Schuhe auszog und, nachdem er im Gang gebetet hatte, sagte, die nukleare Auslöschung werde sich nicht vermeiden lassen, wenn sie Gottes Wille sei, allerdings sei Gottes Wille in dieser Angelegenheit noch unbekannt. Er lächelte mich freundlich an, und ich vermutete, dass er diese Bemerkung machte, um mich zu beruhigen.
    Und nun, Sir, ist es Zeit zu essen! Zu Ihrer eigenen Sicherheit würde ich Ihnen vorschlagen, den Joghurt und das gehackte Gemüse da zu meiden. Wie? Nein, ganz und gar nicht, das war nicht böse gemeint, aber es könnte doch sein, dass Ihr Magen ungekochte Speisen nicht

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