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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamed
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zurückflogen. Das empfand ich als Ironie; vor drohenden Schlachten sollten Kinder und Ältere fortgeschickt werden, hier aber gingen die Stärksten und Klügsten, diejenigen, die früher am ehesten hätten bleiben sollen. Verachtung mir selbst gegenüber erfüllte mich, so sehr, dass ich mich nicht zu Gesprächen oder zum Essen überwinden konnte. Ich schloss die Augen und wartete, und die Stunden enthoben mich sogar der Verantwortung zu fliehen.
    Die Beklemmungen, die einem bewaffneten Konflikt vorausgehen, sind Ihnen nicht unbekannt, sagen Sie? Aha! Dann haben Sie also gedient, Sir, ganz wie ich vermutet hatte! Finden Sie nicht auch, dass das Warten darauf, was geschehen wird, das Schwierigste von allem ist? Ja, natürlich, nicht so schwierig wie die Zeit des Gemetzels selbst – so, Sir, spricht der wahre Soldat. Aber warum hören Sie denn auf zu essen, warten Sie vielleicht auf frisches Brot? Hier, nehmen Sie die Hälfte von meinem. Nein, ich bestehe darauf; der Kellner bringt uns gleich mehr.
    Bei Ihrer Vorgeschichte haben Sie bestimmt schon das eigentümliche Phänomen erlebt, aus einer Umgebung, in der die Aussicht auf ein gewaltiges Blutvergießen sehr real ist, in eine mehr oder weniger friedliche zurückzukehren. Das ist ein merkwürdiger Übergang. Meine Kollegen nahmen meine Rückkehr in die Firma mit erheblicher – wenn auch häufig etwas unterdrückter – Bestürzung auf. Denn trotz der Bitte meiner Mutter und obwohl ich um die Schwierigkeiten wusste, die ich damit bei der Einreise voraussichtlich haben würde, hatte ich meinen zwei Wochen alten Bart nicht abrasiert. Vielleicht war es für mich eine Form des Protests, ein Symbol meiner Identität, vielleicht wollte ich damit aber auch die Wirklichkeit, die ich gerade zurückgelassen hatte, in Erinnerung behalten; meine genauen Beweggründe sind mir entfallen. Ich wusste nur, dass ich mich nicht der Armee glatt rasierter junger Männer, die meine Mitarbeiter darstellten, anpassen wollte und dass ich im Innern aus einer Vielzahl von Gründen zutiefst zornig war.
    Es ist beachtlich, was für eine Wirkung ein Bart angesichts seiner physischen Belanglosigkeit – schließlich ist er ja nur eine Haartracht – bei einem Mann meiner Hautfarbe auf Ihre Landsleute hat. Mehr als einmal wurde ich in der U-Bahn, wo ich immer das Gefühl gehabt hatte, mich nahtlos einzufügen, von wildfremden Menschen wüst beschimpft, und bei Underwood Samson war ich offenbar über Nacht zum Gegenstand von Getuschel und Blicken geworden. Wainwright wollte mir einen freundlichen Rat geben. »Hör mal«, sagte er, »ich weiß nicht, was es mit deinem Bart auf sich hat, aber ich glaube nicht, dass er dich hier zu Mister Sunshine macht.« »Wo ich herkomme, ist das normal«, antwortete ich. »Wo ich herkomme, ist Jerk Chicken normal«, entgegnete er, »aber ich geh damit nicht hausieren. Du musst vorsichtig sein. Dieser ganze Lack aus Firma und Kollegialität ist nur dünn. Glaub mir.«
    Ich war dankbar für die Besorgnis meines Kollegen, nahm seinen Rat aber nicht an. Trotz der Entlassungen blieb die Auslastungsquote unserer Firma im Januar niedrig, und ich saß fast beschäftigungslos an meinem Schreibtisch. Ich verbrachte diese Zeit online und las über die fortschreitende Verschlechterung der Beziehungen zwischen Indien und Pakistan, studierte Expertenurteile über die militärische Kräfteverteilung in der Region, anzunehmende Kampfszenarien und auch über die negativen Auswirkungen, die die Konfrontation schon auf die Wirtschaft beider Nationen hatte. Ich fragte mich, wie es kam, dass Amerika solche Verheerungen auf der Welt anrichten konnte – beispielsweise in Afghanistan einen ganzen Krieg zu inszenieren und durch sein Handeln die Invasion schwächerer Staaten durch stärkere, wie Indien es nun mit Pakistan vorhatte, zu legitimieren – und im eigenen Land so wenig davon zu spüren war.
    Auch rief ich schließlich Erica an, nachdem ich mich sechs Wochen lang bemüht hatte, nicht mit ihr Kontakt aufzunehmen, und da ihr Telefon ständig tot war, schickte ich ihr eine Mail. Ich würde gern sagen können, dass meine Nachricht kurz war, ein höfliches Hallo, das ihre Bitte um Schweigen weitgehend respektierte, aber in Wahrheit hatte ich stundenlang daran gesessen, und es war vielleicht die längste, die ich je geschrieben habe. Ich erzählte ihr darin, was in meinem Leben geschehen war, bei der Arbeit wie auch zu Hause, und von dem Durcheinander, das ich durchlief, auch schrieb

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