Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
ich ihr, wie sehr ich sie vermisste und dass ich nicht verstand, wohin und warum sie gegangen war. Nach ein paar Tagen kam ihre Antwort. »Ich bin in einer Art Klinik«, schrieb sie, »einer Einrichtung, wo Leute sich erholen können. Ich denke auch an dich.« Sie lud mich ein, sie zu besuchen, es fiele ihr leichter, meine Fragen im persönlichen Gespräch zu beantworten.
Die Klinik lag eine Nachmittagsfahrt weit außerhalb der Stadt, eine umgebaute Villa auf zwanzig Hektar abgelegener Landschaft mit Blick über den Hudson River. Am Empfang begrüßte mich eine Krankenschwester. »Sie sind bestimmt Changez«, sagte sie. »Erica hat mir viel von Ihnen erzählt.« »Das bin ich«, sagte ich. »Woher haben Sie das gewusst?« »Wimpern wie in einer Maybelline-Anzeige«, antwortete sie. »Das hat sie gesagt.« Während ich über diese unglaubliche Beschreibung nachdachte, erklärte mir die Krankenschwester, Erica habe auf mich gewartet, sei dann aber ein wenig nervös geworden und spazieren gegangen und habe sie gebeten, mir an ihrer Stelle einige Dinge zu erklären. »Dann will sie mich also nicht sehen?«, fragte ich. Die Krankenschwester lächelte. »O doch«, sagte sie, »aber manchmal ist es den Leuten peinlich, wenn sie in so ein Haus kommen. Sie glaubt, es würde für Sie beide weniger unangenehm, wenn ich zuerst mit Ihnen rede.« Sie tätschelte mir die Hand. Dann fügte sie hinzu: »Ich bin wie die Dusche, unter die man geht, bevor man ins Becken springt.«
Was ich bei Erica begreifen müsse, sagte mir die Schwester, sei, dass sie einen anderen liebe. Sie wisse, es sei hart für mich, das zu hören, aber es müsse nun mal sein. Es spiele dabei keine Rolle, dass der Mensch, den Erica liebe, das sei, was die Schwester oder ich verstorben nennen würden; für Erica sei er noch hinreichend lebendig, und das sei das Problem: Es sei für Erica schwierig, in der Welt draußen zu sein und so wie die Schwester oder ich zu leben, wenn sich bei ihr im Kopf Dinge abspielten, die stärker und bedeutsamer seien als die, die sie mit uns anderen erleben könne. Daher gehe es Erica in einem solchen Haus besser, wo sie von uns anderen getrennt sei, wo man in seinem eigenen Kopf leben könne, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. »Aber irgendwann wird sie doch hier wieder wegmüssen«, sagte ich. »Vielleicht will sie dann ja mit mir zusammen sein.« Die Schwester schüttelte den Kopf. »Vielleicht«, sagte sie. »Aber im Augenblick sind Sie derjenige, dem zu begegnen ihr am schwersten fällt. Weil Sie der Realste sind und Sie sie aus dem Gleichgewicht bringen.«
Die Schwester meinte, ich würde Erica wahrscheinlich am Ende eines Weges finden, der sich durch das bewaldete Areal wand, in einem Wäldchen auf einem Hügel. Da war sie denn auch; sie saß auf einer Bank aus grob gehauenen Balken. Sie trug eine schwere Jacke und wandte sich um, als ich mich ihr näherte; sie war hager, und das Fleisch wirkte da, wo es sich über ihre Gesichtsknochen spannte, fast wie geprellt, und sie glühte von etwas, was der Inbrunst von Eiferern nicht unähnlich war. Sie streckte mir ihre Hand entgegen, doch statt sie zu schütteln, küsste ich sie; meine Lippen berührten die synthetischen Polymere ihres Winterhandschuhs. Sie lächelte. »Du siehst gut aus«, sagte sie, »dein Bart bringt deine Augen zur Geltung.« Sie sah aus wie jemand, der im Begriff war, den Fastenmonat zu beenden, und von Gebeten und der Lektüre der Heiligen Schrift zu sehr in Anspruch genommen war, um dem Abendessen genügend Aufmerksamkeit zu widmen, aber das sagte ich nicht.
Sie bot mir ihren Arm an, und leise redend schlenderten wir dahin; der Nebel unseres Atems ging uns voraus. »Das hier tut mir im Augenblick sehr gut«, sagte sie. »Hier bin ich ruhig.« »So wirkst du auch«, sagte ich und widerstand dem Drang hinzuzufügen, zu ruhig. »Tut mir leid, dass ich mich verkrochen habe«, sagte sie. »Es ist nicht so, dass ich dich nicht sehen wollte. Ich habe nur einfach gemerkt, dass ich dich da in etwas hineinziehe, und ich wollte nicht, dass du leidest. Ich dachte, so wäre es für dich besser.« »Warum sollte ich denn leiden?«, fragte ich. »Es tut weh, wenn man jemanden mag und der dann weggeht«, antwortete sie. »Aber wohin gehst du denn?«, fragte ich. Sie zuckte die Achseln und antwortete nicht.
Wir gingen schweigend weiter; bis auf das Knirschen des Schnees unter unseren Füßen war alles still; meine Ohren schmerzten zunehmend von der Kälte.
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