Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
erwarten. Meine Mutter strich mir mit einem Hundert-Rupien-Schein um den Kopf, um meine Rückkehr zu segnen; später ging er als Spende an die Wohlfahrt. Die Augen meines Vaters glänzten feucht und braun. »Kontaktlinsen«, sagte er und tupfte sie mit einem Taschentuch ab. »Ganz schick, wie?« Ich sagte, sie stünden ihm gut, und so war es auch; er hatte seine Brille erst spät im Leben bekommen, und sie hatte die Kraft seines Gesichts verborgen. Weder er noch meine Mutter wollten über die Möglichkeit eines Krieges sprechen; sie wollten mich unbedingt füttern und von meinem Leben in New York und meinen Fortschritten bei der Arbeit in allen Einzelheiten hören. Es war eigenartig, hier von dieser Welt zu sprechen, so wie es eigenartig wäre, in einer Moschee zu singen; was an einem Ort natürlich ist, kann an einem anderen unnatürlich sein, und manche Konzepte sind nur schwer übertragbar, wenn überhaupt. Beispielsweise vermied ich jede Erwähnung von Erica wie auch von allem, was sie beunruhigen konnte.
Doch an jenem Abend wurde mir zu Ehren ein Familienbankett abgehalten, und da war der Konflikt mit Indien das beherrschende Thema. Es gab unterschiedliche Meinungen darüber, ob die Männer, die das indische Parlament überfallen hatten, etwas mit Pakistan zu tun hatten, doch war man sich einig darin, dass Indien alles unternehmen werde, uns zu schaden, und dass die Amerikaner trotz der Unterstützung, die wir ihnen in Afghanistan gewährt hatten, nicht an unserer Seite kämpfen würden. Schon mache die indische Armee mobil, und Pakistan habe auch bereits reagiert: Lastwagenkonvois mit Nachschub für unsere Grenztruppen führen durch die Stadt, wie man mir sagte; beim Essen hörten wir Militärhubschrauber dicht über uns hinwegfliegen; es ging das Gerücht, bald werde der Verkehr auf der Autobahn gestoppt, damit unsere Kampfflugzeuge die Landung darauf üben könnten, falls alle unsere Flugplätze bei einem atomaren Schlagabtausch zerstört würden.
Die Vorstellung, in Pendlerentfernung zu einer Million feindlicher Truppen zu wohnen, die jeden Moment eine groß angelegte Invasion beginnen könnten, mag Ihnen seltsam erscheinen, da Sie aus einem Land kommen, das seit Menschengedenken keinen Krieg mehr auf eigenem Boden hatte, von gelegentlichen hinterhältigen Angriffen oder terroristischen Gräueln einmal abgesehen. Mein Bruder reinigte seine Flinte. Ein Onkel bunkerte Wasserflaschen und Dosennahrung. Unser Teilzeitgärtner wurde zur Reserve eingezogen. Aber sonst schienen die Menschen weitgehend ihrem normalen Leben nachzugehen; Lahore war die letzte Großstadt in einem durchgehenden Streifen muslimischer Länder, der im Westen bis Marokko reichte, und zeigte daher jene latente Kraftmeierei, wie sie Frontstädten eigen ist.
Doch ich war besorgt. Ich fühlte mich machtlos; ich war wütend auf unsere Schwäche, darauf, dass wir von unserem – zugegebenermaßen viel größeren – Nachbarn im Osten so leicht einzuschüchtern waren. Ja, wir hatten Nuklearwaffen, ja, unsere Soldaten würden nicht weichen, aber dennoch wurden wir bedroht, und mir blieb nichts anderes, als im Bett zu liegen, aber schlafen konnte ich nicht. Ich würde sogar bald wieder fort sein und meine Familie und mein Zuhause zurücklassen, und das machte mich in meinen Augen zu einer Art Feigling, einem Verräter. Was ist das für ein Mann, der seine Leute in einer solchen Lage im Stich lässt? Und wofür ließ ich sie im Stich? Für einen gut bezahlten Job und eine Frau, nach der ich mich sehnte, die mich aber nicht einmal sehen wollte? Immer wieder rang ich mit diesen Fragen.
Als es Zeit wurde, nach New York zurückzukehren, sagte ich zu meinen Eltern, ich würde länger bleiben, aber die wollten nichts davon hören. Vielleicht spürten sie, dass ich selbst gespalten war, dass etwas mich nach Amerika zurückrief, vielleicht wollten sie auch einfach nur ihren Sohn schützen. »Und rasier dich, bevor du gehst«, sagte meine Mutter. »Warum?«, fragte ich und zeigte auf meinen Vater und meinen Bruder, »die haben doch auch einen Bart.« »Die«, entgegnete sie, »haben nur einen, weil sie von der Tatsache ablenken wollen, dass sie eine Glatze haben. Außerdem bist du noch ein Junge.« Sie strich mit den Fingern über meinen Flaum und setzte hinzu: »Damit siehst du aus wie eine Maus.«
Auf dem Flug fiel mir auf, wie viele meiner Mitreisenden in meinem Alter waren: Studenten und junge Männer mit gehobenen Berufen, die nach den Ferien
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