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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamed
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verträgt. Wenn Sie darauf bestehen, gehe ich sogar so weit, von jeder einzelnen dieser Platten erst selbst zu kosten, um Ihnen zu versichern, dass Sie nichts zu befürchten haben. Hier. Ein Stück warmes Brot, einfach so – ah, frisch aus dem Tonofen –, und ich fange an.

9
    Ob man uns auch Besteck bringt, fragen Sie? Bestimmt lässt sich eine Gabel für Sie finden, Sir, aber erlauben Sie mir den Hinweis, dass jetzt die Zeit gekommen ist, uns die Hände schmutzig zu machen. Schließlich haben wir ja schon einige Stunden zusammen verbracht, da dürfte es eigentlich keinen Grund mehr geben, sich zurückzuhalten. Es liegt eine große Befriedigung darin, die Beute anzufassen, ja, Jahrtausende der Evolution haben dafür gesorgt, dass die Berührung des Essens mit der Haut den Geschmackssinn steigert – und nebenbei auch unseren Appetit! Aber ich sehe schon, dass Sie nicht weiter überredet werden müssen; Ihre Finger zerreißen das Fleisch dieses Kebab mit beachtlicher Entschlossenheit.
    Man braucht ein gewisses Anpassungsvermögen, wenn man aus Amerika hierherkommt, man muss sich eine andere Sichtweise zulegen. Ich weiß noch, wie amerikanisch selbst mein Blick bei meiner Rückkehr nach Lahore in jenem Winter war, als sich der Krieg abzeichnete. Ich fand es bedrückend, wie schäbig unsere Häuser waren: Risse liefen durch die Decke, trockene Farbenblasen blätterten ab, wo Feuchtigkeit in die Wände gesickert war. An jenem Nachmittag war der Strom ausgefallen, was der Stadt etwas Düsteres verlieh, aber selbst in dem trüben Licht der zischenden Gasöfen wirkte unser Mobiliar veraltet und als müsste es dringend aufgepolstert und repariert werden. Es machte mich traurig, das Haus in einem solchen Zustand anzutreffen – nein, mehr als traurig, ich schämte mich. Von dort kam ich also, das war meine Herkunft, und sie roch nach Ärmlichkeit.
    Doch als ich mich wieder akklimatisiert hatte und meine Umgebung mir wieder vertraut wurde, erkannte ich, dass das Haus sich während meiner Abwesenheit gar nicht verändert hatte. Ich hatte mich verändert; ich sah mich mit den Augen eines Fremden um, nicht irgendeines Fremden, sondern jenes besonderen Typus des anmaßenden, unsympathischen Amerikaners, über den ich mich so ärgern konnte, wenn ich ihm in den Seminarräumen und an den Arbeitsplätzen der Elite Ihres Landes begegnete. Diese Erkenntnis machte mich zornig; und als ich so auf mein Abbild in meinem fleckigen Badezimmerspiegel starrte, beschloss ich, die unwillkommene Empfindlichkeit, die von mir Besitz ergriffen hatte, zu exorzieren.
    Erst danach sah ich mein Haus wieder, wie es tatsächlich war, konnte seine beständige Vornehmheit schätzen, seine unverwechselbare Persönlichkeit, seinen idiosyn-kratischen Charme. Mughal-Miniaturen und alte Teppiche zierten seine Wohnräume, an die Veranda grenzte eine hervorragende Bibliothek. Es war keineswegs ärmlich, es war vielmehr überaus geschichtsträchtig. Ich fragte mich, wie ich nur so kleinlich – und so blind – gewesen sein konnte, je anders darüber gedacht zu haben, und es verstörte mich, was das über mich selbst verriet: dass ich einer war, dem es an Substanz mangelte und der sich daher schon durch einen kurzen Aufenthalt in der Gesellschaft anderer so leicht beeinflussen ließ.
    Doch weit bedeutsamer als diese nach innen gerichteten Grübeleien war die äußere Wirklichkeit – die Bedrohung meines Zuhauses. Mein Bruder hatte mich vom Flughafen abgeholt; er umarmte mich so kräftig, dass er mir beinahe den Brustkorb eindrückte. Beim Fahren wuschelte er mir durch die Haare. Plötzlich kam ich mir ganz jung vor – vielleicht wurde ich mir auch nur meines tatsächlichen Alters bewusst: ich war eher ein kindlicher Zweiundzwanzigjähriger als von jenem beständig mittleren Alter, das sich dem Mann anheftet, der allein lebt und dadurch Bestätigung erfährt, dass er in einer Stadt, in der er nicht geboren ist, einen Anzug trägt. Es war einige Zeit her gewesen, seit ich so entspannt, so vertraut angefasst worden war, und ich lächelte. »Wie geht’s euch?«, fragte ich ihn. Er zuckte die Achseln. »Im Landhaus eines Freundes, eine halbe Stunde von hier, hat eine Artilleriebatterie Stellung bezogen, und in seinem Gästezimmer hat sich ein Oberst einquartiert«, antwortete er, »also nicht so gut.«
    Meinen Eltern schienen wohlauf, sie waren gebrechlicher geworden, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, aber in ihrem Alter war das nach einem Jahr nicht anders zu

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