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Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Titel: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamed
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lachte. »Ein bisschen mehr Begeisterung, bitte«, sagte er. »Das bedeutet eine Menge Verantwortung. Sie werden ganz auf sich allein gestellt sein.« »Sie können sich auf mich verlassen«, sagte ich, diesmal mit, wie ich hoffte, deutlich mehr Nachdruck. Ich weiß jedoch nicht, ob es mir gelang, denn Jim lächelte zwar, wirkte aber doch etwas verwirrt.
    Aber Sie haben ja aufgehört zu essen, Sir. Kann es denn sein, dass Sie schon satt sind? Nun gut, ich will Sie nicht drängen, dennoch möchte ich uns gern einen Nachtisch bestellen, ein wenig Milchreis mit Mandelsplittern und Kardamom, die ideale Süße für einen Abend wie den unseren, der nun eher bitter zu werden droht. Solche Gerichte sind normalerweise vielleicht nicht ganz nach Ihrem Geschmack, aber ich möchte Sie ermutigen, wenigstens ein Häppchen davon zu kosten. Man liest ja auch, dass die Soldaten Ihres Landes mit Schokolade in ihren Tagesrationen in die Schlacht geschickt werden, daher dürfte Ihnen die Aussicht, sich noch vor der blutigsten Aufgabe die Zunge zu verzuckern, nicht ganz fremd sein.

10
    Wenn Sie so dasitzen, Sir, den Arm um die Lehne des leeren Stuhls neben sich gelegt, beult sich der leichte Stoff Ihres Anzugs ein bisschen, und zwar auf Höhe des Brustbeins, genau an der Stelle, wo die Sicherheitsbeamten unseres Landes – ja, und wahrscheinlich auch die aller anderen Länder – gern das Achselholster für ihre Seitenwaffe tragen. Nein, nein, wegen mir brauchen Sie sich doch nicht anders hinzusetzen! Ich wollte Ihnen keinesfalls unterstellen, dass Sie damit ausgerüstet sind; gewiss ist es in Ihrem Fall lediglich der Umriss einer jener Reisebrieftaschen, in denen man als umsichtiger Mensch seine Wertsachen verstaut, damit sie weniger leicht von Dieben entdeckt werden.
    Ich habe solche Vorsichtsmaßnahmen auf meiner Reise nach Chile ebenfalls getroffen. Wir flogen damals wieder in der relativen Annehmlichkeit der First Class, doch der Luxus unserer Kabine begeisterte mich nicht mehr; anders als Jim, der uns wie üblich zum Beginn des Projekts begleitete, und der Vizepräsident, der während der ganzen Dauer dieser Tour mein unmittelbarer Vorgesetzter sein sollte, lehnte ich die zahlreichen Champagnerangebote unserer Flugbegleiterin ab. Während der vielen Stunden, die wir in der Luft waren, konnte ich weder essen noch schlafen; ich war in Gedanken ganz bei den Angelegenheiten anderer Kontinente als dem, der gerade unter uns lag, und mehr als einmal bedauerte ich, überhaupt mitgeflogen zu sein.
    Ich überlegte, was ich tun konnte, um Erica zu helfen. Sie so zu sehen wie beim letzten Mal – abgezehrt, distanziert und derart ohne Leben – tat mir weh; ich musste dabei an den Hund denken, den wir hatten, als ich klein war, an seine Passivität und sein Verlangen nach Einsamkeit in jenen letzten Tagen, bevor er der Leukämie erlag, die er von einem Zeckenpulver bekommen hatte, das wir, wie uns später ein Tierarzt sagte, niemals hätten anwenden sollen. Doch Erica hatte keine Leukämie, es gab keinen physischen Grund für ihr Leiden, außer vielleicht einer biochemischen Disposition zu derartigen Nervenstörungen. Nein, es war eine Krankheit des Geistes, und ich war in einer Umgebung groß geworden, die zu stark von einer Tradition gemeinsamer mystischer Rituale erfüllt war, um zu akzeptieren, dass ein Geisteszustand nicht von der Fürsorge, der Zuneigung und dem Begehren anderer beeinflusst werden konnte. Wesentlich für mich war der Versuch zu verstehen, warum ich die Membran, mit der sie ihre Psyche schützte, nicht hatte durchdringen können; meine direkteren Versuche, mich ihr zu nähern, waren zurückgewiesen worden, doch mit genügend Einsicht mochte ich vielleicht doch noch durch einen Osmoseprozess aufgenommen werden. Ich konnte mir keine andere Möglichkeit vorstellen, als es zu versuchen; trotz der Monate unserer nahezu vollkommenen Trennung war meine Sehnsucht nach ihr ungebrochen.
    In einer solchen Geistesverfassung traf ich in Santiago ein. Von dort reisten wir auf der Straße weiter – kamen gut voran bis auf einen kleinen Stau, wo die Schaufelbagger von Ausbesserungstrupps große Happen jener roten Erde aushoben, die Chiles Valle Central kennzeichnet –, und wir rochen unseren Zielort, noch bevor wir ihn sahen; Valparaiso lag am salzigen Pazifik und war von einer Hügelkette unserem Blick verborgen.
    Der Leiter des Verlages war ein alter Mann namens Juan-Bautista, der filterlose Zigaretten rauchte und eine Brille trug,

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