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Der Gang vor die Hunde (German Edition)

Der Gang vor die Hunde (German Edition)

Titel: Der Gang vor die Hunde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kästner
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diesem verrückt gewordenen Steinbaukasten zu suchen? Blumigen Unsinn schreiben, damit die Menschheit noch mehr Zigaretten rauchte als bisher? Den Untergang Europas konnte er auch dort abwarten, wo er geboren worden war. Das hatte er davon, daß er sich einbildete, der Globus drehe sich nur, solange er ihm dabei zuschaue. Dieses lächerliche Bedürfnis, anwesend zu sein! Andere hatten einen Beruf, kamen vorwärts, heirateten, ließen ihre Frauen Kinder kriegen und glaubten, das gehöre zum Thema. Und er mußte, noch dazu freiwillig, hinterm Zaune stehen, zusehen und ratenweise verzweifeln. Europa hatte große Pause. Die Lehrer waren fort. Der Stundenplan war verschwunden. Der alte Kontinent würde das Ziel der Klasse nicht erreichen. Das Ziel keiner Klasse!
     
    Da klopfte die Wirtin Hohlfeld, trat ins Zimmer und sagte: »Pardon, ich dachte, Sie wären noch nicht da.« Sie kam näher. »Haben Sie gestern nacht den Krach gehört, den Herr Tröger veranstaltet hat? Er hatte wieder Frauenzimmer mit oben. Das Sofa sieht aus! Ich werfe ihn hinaus, wenn das noch einmal vorkommt. Was soll die neue Untermieterin denken, die im andern Zimmer wohnt?«
    »Wenn sie noch an den Storch glaubt, ist ihr nicht zu helfen.«
    »Aber Herr Fabian, meine Wohnung ist doch kein Absteigequartier!«
    »Gnädige Frau, es ist weithin bekannt, daß sich, von einem gewissen Alter ab, beim Menschen Bedürfnisse regen, die im Widerspruch zur Moral der Vermieterinnen stehen.«
    Die Wirtin wurde ungeduldig. »Aber er hatte mindestens zwei Frauenzimmer bei sich!«
    »Herr Tröger ist ein Wüstling, gnädige Frau. Das Beste wird sein, Sie teilen ihm mit, er dürfe pro Nacht höchstens eine Dame mitbringen. Und wenn er sich nicht darnach richtet, lassen Sie ihn von der Sittenpolizei kastrieren.«
    »Man geht mit der Zeit«, erklärte Frau Hohlfeld nicht ohne Stolz und rückte noch näher. »Die Sitten haben sich geändert. Man paßt sich an. Ich verstehe Manches. Schließlich, ich bin ja auch noch nicht so alt.«
    Sie stand knapp hinter ihm. Er sah sie nicht, aber vermutlich wogte ihr unverstandener Busen. Das wurde von Tag zu Tag schlimmer. Fand sich denn wirklich niemand für sie? Nachts stand sie vermutlich, auf bloßen Füßen, vor dem Zimmer des Stadtreisenden Tröger und nahm, durchs Schlüsselloch, seinen Orgien Parade ab. Sie wurde langsam verrückt. Manchmal blickte sie ihn an, als wolle sie ihm die Hosen ausziehen. Früher war diese Sorte Damen fromm geworden. Er stand auf und sagte: »Schade, daß Sie keine Kinder haben.«
    »Ich gehe schon.« Frau Hohlfeld verließ entmutigt das Zimmer.
    Er sah an die Uhr. Labude war noch in der Bibliothek. Fabian trat zum Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Stapeln darauf. Darüber, an der Wand, hing eine Stickerei mit der Inschrift: »Nur ein Viertelstündchen.« Er hatte, als er einzog, den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern angebracht. Manchmal las er noch ein paar Seiten in irgendeinem der Bücher. Geschadet hatte es fast nie.
    Er griff zu. Es war Descartes. Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie, so hieß das kleine Heft. Sechs Jahre waren es her, seit er sich damit befaßt hatte. Driesch hatte in der mündlichen Prüfung dergleichen wissen wollen. Sechs Jahre waren mitunter eine lange Zeit. Auf der anderen Straßenseite hatte ein Schild gehangen: Chaim Pines, Ein- und Verkauf von Fellen.
    War das alles, was er von damals wußte? Bevor er vom Examinator aufgerufen wurde, war er, mit dem Zylinder eines anderen Kandidaten auf dem Kopf, durch die Korridore spaziert und hatte den Pedell erschreckt. Vogt, der Kandidat, war dann durchgefallen und nach Amerika gegangen.
    Er setzte sich und schlug das Heft auf. Was hatte Descartes ihm mitzuteilen? »Schon vor Jahren bemerkte ich, wieviel Falsches ich von Jugend auf als wahr hingenommen hatte und wie zweifelhaft alles sei, was ich später darauf gründete. Darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben von Grund auf alles umstürzen und ganz von vorn anfangen, wenn ich je irgend etwas Festes und Bleibendes aufstellen wolle. Dieses schien mir aber eine ungeheure Aufgabe zu sein, und so wartete ich jenes reife, für wissenschaftliche Untersuchungen angemessene Alter ab. Darum habe ich so lange gezögert, daß ich jetzt eine Schuld auf mich laden würde, wenn ich die Zeit, die mir zu handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte. Das trifft sich nun sehr günstig. Mein Geist ist von allen Sorgen frei, und ich habe mir

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