Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
ihrer Höhle gekrochen ist: schuppige Haut, schlitzäugig, ahnungslos darüber, was sie draußen wohl vorfinden wird. Als sie den betonierten Hof verlassen, sinken sie tief im Sand der October Road ein, eine bleiche, weiße Mondlandschaft empfängt sie surreal und dennoch vertraut. Kawsar dreht sich zu ihrem Bungalow um und nimmt Abschied von den kummerblauen Mauern.
Sie bewegen sich langsam wie unter Wasser, Filsan setzt ihr ganzes Körpergewicht ein und stolpert mehrmals. Kawsar kauert sich unter die Decke und versucht, die Teile des zerstörten Viertels zu etwas zusammenzufügen, das sie wiedererkennt. Raages ach so ordentlicher kleiner Laden ist geplündert worden; Maryams Ziege liegt keuchend und halbtot auf der Seite; Umar Fareys Hotel hat schwer unter dem Granatbeschuss gelitten, die meisten der grünen Fenster sind zersplittert und geschwärzt, die Kassetten der Videohalle sind zerstört, in den umliegenden Bäumen flattern die schwarzen Bänder wie Trauerflor; auf Fadumos Dach schwelt ein Feuer. Deqo zerrt die Schubkarre nach links, von den drei auf dem Bauch liegenden Leichen weg. Kawsar legt sich die Hand über die Augen, muss aber wider Willen hinsehen und erkennt zwischen den Fingern hindurchblickend Maryam und zwei ihrer Kinder. Weder Deqo noch Filsan sehen hin. Kawsar spricht ein Gebet für die Familie und schämt sich, dass sie nicht einmal stehen bleiben kann, um sie zu beerdigen. Maryam mit ihrer Alligator-Handtasche voller Medikamente hat Besseres verdient, als das, was dieses Land ihr und ihren Kindern gegeben hat. Es hat sie zu Haut und Fleisch reduziert, um das sich jetzt die Geier streiten. Ihr Anblick beschämt Kawsar. Alles, woran sie geglaubt hat, spielt keine Rolle mehr: Religion, Tradition und Zivilisation sind hinweggefegt worden. Hodan hat damals gut daran getan, sich davonzumachen.
Bis auf ein paar halbherzige Schüsse und das weit entfernte Rattern der Lastwagen, die über die Hargeisa Bridge fahren, scheint es so, als hätten Soldaten und Rebellen einander einstweilen zermürbt. Die erste Gewaltorgie ist vorüber; jetzt es ist es an der Zeit, die Leichen zu begraben, Wunden zu versorgen und Schlaf nachzuholen. Das Mondlicht ist so hell, dass Kawsar bis ans Ende der Straße sehen kann, wo unter dem Gebüsch kleine samtige Schatten wie Dschinns kauern. Die Panzer, die Flugzeuge, die Hubschrauber, die gepanzerten Fahrzeuge und Kanonen sind in den Schlaf versetzt worden, und die wenigen Singvögel, die nicht geflüchtet sind, trillern los, rufen einander trostsuchend mit desorientierten, niedergeschlagenen Liedern. Sie werden die Dichter sein müssen, die berichten, was sich hier ereignet hat, Empörung lässt ihre Brust schwellen und öffnet ihnen weit die Kehle, die kummervollen Töne verfangen sich in den Bäumen und fallen, sollte das Leben zurückkehren, wie Staub auf Häupter, die lieber vergessen wollen.
Filsan stemmt sich stärker gegen die Schubkarre; die zerbrechliche, alte Frau scheint eine Tonne zu wiegen, und die Anstrengung, sie über den holprigen Boden zu schieben, lässt ihre Arme unkontrolliert zittern. Schmerzblitze zucken ihr Rückgrat hinab; Filsan erträgt sie schweigend und begreift sie als Teil ihrer Wiedergutmachung, als eine körperliche Reinigung, wenn schon keine seelische. Der Schmerz wird schlimmer, beginnt an den Fußsohlen und sägt sich bis zur Schädeldecke hoch. Keuchend und schwitzend fährt sie Kawsar aus Guryo Samo hinaus und in den verwilderten Landstrich dahinter, eine Oase aus Sand, Akazien und Schrott. Das Rad gräbt sich vollständig in den tiefen, feinen Sand, und das Ausgraben fällt Deqo zu, während Filsan nach Atem ringt. Es sind noch weitere fünf, sechs Kilometer, bis sie zu den Straßen gelangen, die aus Hargeisa herausführen. Wenn sie Glück haben, schaffen sie es vor Sonnenuntergang. Wenn nicht, werden sie garantiert von der Armee entdeckt. Deqo lässt eine Thermoskanne mit Wasser herumgehen und schleudert das leere Gefäß in die Aloen.
Filsans Gedanken wandern zu ihrem Vater, der in seinem leeren Haus in Mogadischu schläft; noch nie haben sie so lange keinen Kontakt gehabt. Seit zwei Wochen ignoriert sie seine Anrufe, hat aber ständig seine Stimme im Ohr, den beherrschten, aber herablassenden Tonfall. Sätze wie «Was weißt du denn schon?» und «Sei keine solche Idiotin.» kreisen ihr beständig durch den Kopf. Tief in ihrem Inneren weiß sie, dass sie sich unwiderruflich gegen ihn gewandt hat und jetzt hasst, wie sie sich in
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