Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Bedrückt öffnet sie die letzte Tür, hofft, ihn zu finden und doch nicht zu finden, und da liegt er.
Sie haben Roble ordentlich in ein weißes Tuch gehüllt, nur um das Gesicht haben sie eine rautenförmige Öffnung gelassen. Über Nacht scheint er um zwanzig Jahre gealtert; die Wangen sind eingefallen, die breiten Lippen schlaff, die tiefen Augenhöhlen dunkel. Kein Blut, keine Verletzung sind zu sehen; sie berührt eine Augenbraue und streicht ihm das Haar glatt, die unglaubliche Kälte seiner Haut ist der einzige Beweis, dass er nicht mehr lebt. Filsan streicht mit dem Finger über seine Oberlippe, dann neigt sie den Kopf und küsst ihn auf den Mund und schürft sich die Nase leicht an seinem Kinn auf; der erste Kuss ihres Lebens betäubt ihr Fleisch, betäubt ihren Geist. Sie öffnet wieder die Augen, sieht die Fliesen, die schmutzigen Griffe des Kühlschranks und die hübsch marmorierten Adern auf der Hand eines Leichnams, der auf einer Betonplatte liegt.
«Bald bin ich bei dir.» Filsan schiebt Roble in seine Behausung zurück.
Sie erträgt den Gestank nicht und zittert unkontrolliert, zieht sich bis auf die blutbefleckte Unterwäsche aus und wirft ihre Uniform in dieEcke. Filsan entkleidet eine der Toten – Typ Lehrerin mit vernünftiger, wenig eleganter Brille, nimmt deren Paisley-
diric
, das Umschlagtuch, und die zierlichen Sandalen; die sichtbaren Prellungen auf dem nackten Körper der Frau wirken wie Anschuldigungen.
Sie klettert durch das Fenster in den sonnenbeschienenen, von Unkraut überwucherten Innenhof des Krankenhauses hinaus, schiebt sich das Tuch über Nase und Mund und senkt den Kopf. Vorsichtig setzt sie einen Fuß vor den anderen, wahrscheinlich wird sie noch getötet werden, ehe der Tag vorüber ist, entweder weil sie Deserteurin ist oder als einsame Frau mitten auf einem Schlachtfeld herumläuft, aber sie kann nicht hierbleiben, koste es, was es wolle.
«Geh einfach weiter, geh weiter, geh weiter», murmelt sie vor sich hin.
Neben der Mauer, die das Hauptgebäude von der psychiatrischen Abteilung trennt, ist Gestrüpp, liegen Stacheldrahtreste, dahinter befindet sich die Verbrennungsanlage. Filsan sieht sich prüfend um, ehe sie in den Schatten des Betonhäuschens schlüpft; mühsam klettert sie mit ihren leichten Sandalen auf das niedrige Dach und über die Grundstücksmauer. Sie verliert den Halt und knallt mit dem Rücken auf die Straße.
Die Straße ist leer, die Reifenspuren der Lastwagen wirken wie die Fußabdrücke eines Riesen. Filsan klopft sich den Schmutz ab und geht nach Osten in das Viertel, durch das sie mit Roble zu patrouillieren pflegte. Über die gesamte Stadt sind mehr als fünfzig Checkpoints verteilt – Filsan hat bei der Auswahl ihrer Standorte mitgewirkt –, und selbst wenn es ihr gelingt, alle zu umgehen, sind da noch Granaten, Splitterbomben und Tiefflieger, denen es auszuweichen gilt. Ein paar Meter vor sich entdeckt sie eine Menschenmenge, die sich an die Mauer des Krankenhauses drückt, hier ist eine graue Hose zu sehen, dort ein kühn gemusterter
diric
. Sie versteckt sich und bewegt sich erst weiter, nachdem sie sich vergewissert hat, dass sich keine Soldaten darunter befinden. Die Gruppe rührt sich nicht, kein Wort fällt; wahrscheinlich sind sie zu schwer verwundet oder zu müde, um auch nur einen einzigen Schritt weiter Richtung Krankenhaus zu machen.
Noch ein paar Schritte und dann erkennt sie den Grund: Dort liegen dreißig Leichen übereinander, ihre Glieder sind ineinander verschlungen, sie sind in grotesken Haltungen erstarrt. Bei manchen sind die Blutungen noch frisch, andere sind verfärbt und aufgedunsen, sich wölbende Schenkel, violette Gesichter, straffe, glänzende Haut, wo die Hemden offen stehen. Alle haben mehrere Schusswunden, bis auf einen Mann, durch dessen Kehle ein breiter Schnitt geht, die starre Architektur seines Halses ist offen sichtbar.
Filsan schützt sich mit dem Umschlagtuch vor dem Geruch und den berauschten Fliegen. Einen Moment lang starrt sie eines der Gesichter an und erkennt schließlich die Familie, die sie am Checkpoint angehalten hatte; alle sind sie hier, die humpelnde Mutter, die drei kleinen Mädchen, der halbwüchsige Junge mit seinem überladenen Handkarren und die junge Frau mit dem spitzen Kinn, die sie angeführt hat. Wie war noch ihr Name? Luul? Nura? Die Augen der Frau sind aufgerissen, der Kopf entsetzt zurückgeworfen, die Arme nach ihren Schwestern ausgestreckt. Nach den Blutspritzern auf der
Weitere Kostenlose Bücher