Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
überzeugt sein, dass sie nicht wie alle anderen das Bedürfnis hat, zu fliehen; sie hält sich mit Gebeten am Leben und wartet darauf, dass sich langsam der Staub auf ihr niederlässt und sie in ihrem eigenen Schrein beisetzt. Dann betritt Deqo das Zimmer und erkennt sofort, wen sie da gefunden hat.
Kawsar räuspert sich und streicht nervös über die Betttücher. «Du solltest jetzt gehen. Das ist nicht die geeignete Zeit für ein Plauderstündchen beim Tee.»
Plötzlich ist Deqos Aufmerksamkeit geweckt. «Ich kann nirgendwo hingehen.»
Bestimmt würde doch das zerlumpteste und Klebstoff schnüffelnde Bettlerkind aus Angst vor den Bomben zu seiner Familie zurückrennen, aber vielleicht hat Deqo keine Angst, weil ihre Familie in der Nähe ist und Seite an Seite mit den Soldaten die Häuser ihrer Nachbarn plündert.
«Was willst du machen, wenn die Soldaten kommen?», fragt Kawsar.
«Hier in der Nähe sind keine Soldaten. Für eine Weile sind wir sicher.»
Beim anmaßenden «wir» hebt Kawsar die Augenbrauen, der Schalk sitzt ihr im Nacken. «Was sollen
wir
denn machen, bis sie kommen?», fragt sie lächelnd. «
Shax
spielen? Einen Reifen die Straße entlangtreiben? Uns gegenseitig Zöpfe flechten?»
«Echt? Würdest du mir Zöpfe flechten?», erwidert Deqo eifrig und hebt die Hand zum Kopf, als beschäme sie seine Schmuddeligkeit.
Bei der Freimütigkeit des Mädchens durchzuckt Kawsar ein kleinerFreudenstrahl, eine Art Wärme, die sie immer verspürt hatte, wenn sie sich um die Bedürfnisse eines Kindes kümmern konnte, ein Gefühl, das sie beinahe vergessen hat.
«Hol Haaröl und einen Kamm vom Toilettentisch.»
Deqo reicht ihr beides.
«Setz dich da vor mich hin», ordnet Kawsar an.
Behände setzt sich das Mädchen auf den Boden, stützt sich mit den Armen auf; sie riecht nach Obst und Schweiß.
«Wir sollten dein Haar waschen, aber es geht auch so.» Kawsar löst die alten Zöpfe, strählt Deqos weiches, aber dreckiges Haar mit den Fingern und massiert Jasminöl in die Kopfhaut, während Deqo geistesabwesend mit dem Deckel spielt.
In Kawsars Kopf erklingt ein altes Liebeslied: «Die Liebe, die Liebe ist nicht gerecht, Tränen lauern überall.»
«Kann ich eine Weile hierbleiben?», bittet Deqo.
Kawsars Herz klopft heftig, ihr Atem ist flach. Wenn doch die Zeit in diesem Moment endete und es nichts anderes gäbe außer ihren geschickten Fingern und dem Haar des Mädchens, das es zu Seide zu spinnen gilt. Irgendwo muss es eine bucklige, zahnlose Zauberin geben, die all die ach so verschiedenen Menschen miteinander verwebt, denkt Kawsar, die gedankenlos dieses Kind und mich zusammenführt, während anderswo Familien auseinandergerissen werden.
Sie legt dem Mädchen eine Hand auf den schmalen, sehnigen Rücken, kann die Hitze seiner Seele durch ihre ölige Handfläche spüren, glatt und lebendig wie ein Ei. Eine solche Glut kann doch nicht einfach verschwinden! Wenn man sie jetzt hier ermordete, würden ihre Geister einfach genauso weitermachen, der alte Geist flechtend und der junge wartend und dabei herumzappelnd? Sie kann sich das gut vorstellen, die Stille und die Friedlichkeit, ein Quell des Neides für die Passanten, die zufällig einen Blick durch das vergitterte Fenster werfen, während sie ihrerseits mit dem Zorn und Chaos des Lebens ringen.
Filsan eilt hinter dem Krankenwärter und der toten Schülerin durch die Korridore, körperlose Stimmen fliegen wie Vögel vorbei, Fetzen vonSonnenlicht fallen durch staubige Fenster. Der Krankenwärter bleibt stehen, und sie erstarrt. Er betritt einen Raum, und der Geruch verrät ihr, dass sie sich vor der Leichenhalle befinden.
Der Mann kommt mit leeren Händen zurück, und sie kann einen Blick in den Raum werfen, ehe die Tür zufällt, niemand vom Personal hält sich darin auf, und sie schlüpft durch die Tür. Auf dem Boden türmen sich die Leichen, an manchen Stellen liegen drei übereinander, in unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Filsan sucht nach Robles Gesicht, aber ihr Blick kehrt immer wieder zu dem kleinen Mädchen zurück, dessen schmaler Körper in eines der obersten Fächer gestopft worden ist. Auf der einen Seite des weiß gekachelten Raums entdeckt sie den üblichen Metallschrank und öffnet methodisch eine Tür nach der anderen, von oben links bis nach unten rechts. Die Gesichter sind wie geschmolzene Wachsabgüsse: hier die Kopie einer alten Frau, dort ein reicher Staatsdiener, ein Neugeborenes neben seine Mutter gequetscht.
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