Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Titel: Der Garten der verlorenen Seelen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
Wand zu urteilen, wurden sie hier erschossen. Filsan lässt ihren Blick über die Leichen schweifen, fühlt sich nicht schuldig, sondern verspürt vielmehr eine unersättliche Neugier, ein Verlangen, zu wissen, wann und wo ihr eigener Tod sie ereilen und mit welchem Gesichtsausdruck sie ihn empfangen wird. Sie ist noch nie so gewesen wie andere Menschen, und diese Leichen bestätigen ihr, dass sie auf dieser Erde nutzlos ist; sie ist dazu verdammt, nur ein Handlanger des Todes zu sein.
    Filsan sucht den Himmel nach Flugzeugen ab und lauscht auf Panzer. Alles ist ruhig. Sie biegt in ein Gässchen voller Tierkot ab, betritt das nächste Gässchen und dann das nächste.
    «Warum bist du weggerannt?», fragt Kawsar, nachdem sie Deqo lange angestarrt hat.
    Deqo kaut auf ihrer Unterlippe herum, blickt schuldbewusst zu Boden; sie erinnert sich nur noch bruchstückhaft an den Tag im Stadion: flüchtige Bilder vom Tanzen, dann Schläge, dann der Wind in ihrem Haar, als sie weggerannt ist.
    «Keine Ahnung, ich hatte Angst.»
    «Hab ich mich denn nicht für dich eingesetzt?»
    Deqo nickt.
    «Hätte ich mehr für dich tun können?»
    Deqo schüttelt den Kopf.
    Kawsar atmet geräuschvoll aus, und langsam füllen sich ihre Augen mit Tränen. «Ich hab dich so vermisst.»
    Deqo tappt zum Bett hinüber und wischt Kawsar die Tränen ab. «Tut mir leid», sagt sie leise und freut sich, dass sie einen derart tiefen Eindruck auf die alte Frau gemacht hat.
    «Du hast mich mit leerem Herzen zurückgelassen», schluchzt Kawsar. «Jetzt ist es zu spät, um mich zu trösten.»
    Deqo streichelt ihr weiter über die Wange. «Es ist nicht zu spät, ich kann dir helfen. Ich bring dich hier raus.»
    Kurze Zeit später hat Deqo die dreckigen Betttücher abgezogen, Kawsar mit einer Dose Thunfisch gefüttert und ihr mit einem nassen Handtuch Gesicht und Arme abgerieben. Diese Aufgabe hat den Krieg vorübergehend aus ihren Gedanken verdrängt.
    «Es ist zu spät», wiederholt Kawsar wieder und wieder und weint dabei bitterlich.
    Deqo lehnt sich an das Bett und wartet, dass die Tränen versiegen, das tun sie immer, hat sie von Schwester Doreen gelernt: Gewitter kommen schnell und entladen sich heftig, danach ist der Himmel wieder klar, und bei Tränen ist es genauso.
    Kawsars Schluchzen verebbt und hört schließlich ganz auf; ihr gerötetes, verzerrtes Gesicht wirkt kindlich, verwirrt.
    Verlegen wendet Deqo den Blick ab, während Kawsar sich allmählich wieder fängt. Das Mädchen hockt im Schneidersitz vor dem Bett und betastet die festen, ziependen Zöpfe auf ihrem Kopf. «Ich will, dass du mit mir nach Saba’ad kommst.»
    Schweigen.
    «Dort sind wir in Sicherheit, alle werden denken, dass du meine Großmutter bist. Schwester Doreen wird dir helfen.»
    Keine Antwort.
    Deqo wendet den Kopf und erblickt Kawsars geschlossene Augen. Sie springt auf, hält das Ohr an den Mund der Frau und spürt ihren warmen Atemstrom auf der Haut.
    «Dann schlaf ein bisschen.» Sie tätschelt die altersfleckige Hand.
    Rastlos hält sie durch das Fenster Ausschau, über dessen Scheibe quer ein feiner Riss verläuft; ein wenig Druck würde genügen, und das Glas würde zerspringen. Der Wind bewegt die Zweige des
miri-miri-
Baums, und gern würde Deqo diesen Luftzug auch auf dem Gesicht spüren.
    Auf der Straße wendet sie sich nach rechts, geht in die entgegengesetzte Richtung, aus der sie gekommen ist. Drei tote Körper verderben die friedliche Szenerie; der
miri-miri
, die Bougainvillea und der Wacholder können den Verwesungsgeruch nicht überdecken. Sie bindet eine Ziege los, die immer noch an einen Pflock gefesselt ist, und erschöpft sinkt das Tier in die Knie und blickt Deqo aus riesigen, entsetzten Augen an. Sie geht weiter, überlässt die Ziege ihrem Schicksal. Der hiesige
dukaan
ist aufgebrochen und geplündert worden, halb im Sand vergraben finden sich eingedrückte Dosen mit Kondensmilch und Kidneybohnen. Deqo geht in den Laden und entdeckt hinter dem Verkaufstisch die blutüberströmte Leiche des Besitzers, der auf dem Kopf eine Gebetsmütze trägt und zwischen den verkrampften Fingern eine Handvoll wertloser Armeegutscheine hält. Sie durchsucht die Lebensmittel auf dem Boden und sammelt in ihrem Rock Süßigkeiten, Getränkeflaschen und Kartoffelchips.
    Ausgedörrt und verloren lehnt Filsan den Kopf gegen die rußgeschwärzte Mauer und holt keuchend und stoßweise Atem. Sie taumelt auf die Straße und auf einen Checkpoint zu. Die Gewehre werden auf sie

Weitere Kostenlose Bücher