Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Kawsars Hand. Sie wendet sich an Filsan. «Du kannst sie hier nicht einfach so sterben lassen. Das bist du mir schuldig.»
Beschämt tritt Filsan ans Bett, Kawsar weicht zurück. «Kannst du überhaupt nicht gehen?», fragt die junge Frau.
«Keinen einzigen Schritt.»
«Ich zahle meine Schulden immer zurück. Was immer dieses Kind will, ich tu’s.»
Kawsar sieht sich in ihrem Zimmer, ihrem Grab um, blickt durch das Fenster zum roten Himmel hinauf, der über dem Skelett einer vertrauten Welt hängt. Wenn sie mit ihnen mitgeht, wird sie genau sehen, was mit ihrer Stadt passiert ist, wird die Zerstörung riechen und schmecken. Bleibt sie, wird die einzige ihr noch verbleibende Erfahrung ihr eigener Tod sein. «Ich komme mit.»
Auf Deqos Gesicht erstrahlt ein breites Lächeln.
Kawsars Herz klopft lauter und lauter, sie möchte fliehen, hat aber Schuldgefühle beim Gedanken, das Leben des kleinen Mädchens aufs Spiel zu setzen, Angst vor der Soldatin und dem, was sie draußen vorfinden wird, verspürt zugleich das äußerst seltsame Verlangen, zu sagen, was sie möchte, statt sich zu fragen, was denn vielleicht für die anderen gut wäre.
Bis die Nacht hereinbricht, ruhen sie sich in verlegenem Schweigen aus, öffnen und verzehren im Licht des Vollmonds drei Dosen Thunfisch aus der Küche. Ihr Tappen im Dunkel erinnert Kawsar an streunende Katzen, die in einer Speisekammer herumschnuppern. Kawsars Gehör ist so geschärft, dass ihr flacher Atem, ihr eigenes Kauen und selbst ihr rhythmischer Herzschlag ohrenbetäubend auf sie wirken. Es ist einfacher, wenn sie die anderen nicht sieht; ihr Schicksal ruht in den Händen eines verdreckten Straßenkindes und einer brutalen, blutbefleckten Deserteurin. Deqo füllt alle Thermoskannen, die sie finden kann, mit Wasser, während Filsan beinahe katatonisch mitten im Raum herumsteht. Nachdem sich die junge Frau gesammelt hat, späht sie durchs Fenster, öffnet die Haustür einen Spalt und schleicht in den Hof hinaus. Deqo linst durch den Spalt und macht Filsan die Tür auf, als sie mit einer Schubkarre zurückkommt. Sie räumen sämtliche Decken vom Bett und polstern damit das kleine Gefährt, mit dem Raage die meterlangen Baguettes an die hiesigen Hausfrauen auszuliefern pflegte. Als Kawsar sich an den Matratzenrand schiebt, spürt sie, wie aus einigen Wunden Flüssigkeit auf die Laken sickert. «Das sind genug Decken. Ich bin doch kein Ei. Komm, zieht mich hoch.»
Filsan rollt die Schubkarre zum Bett und legt Kawsar zögernd einen Arm um den Rücken. Ihre Berührung fühlt sich nicht so widerwärtig an, wie Kawsar gedacht hat; es ist nur eine Hand, weder gut noch böse, einfach eine kräftige Hand. Die junge Frau bugsiert sie in die Schubkarre.
Deqo deckt Kawsar zu und quetscht die Thermosflaschen in die freien Stellen um sie herum.
«Heb die Matratze hoch und hol das Kästchen raus.»
Filsan stellt das Holzkästchen mit dem Geld auf den Boden, das Kawsar seit Hodans Tod angespart hat – die Mieten der Häuser, die Farah gebaut hat, und die magere Polizistenpension, die auf sie übergegangen ist, hätten ein erkleckliches Sümmchen ergeben müssen – aber mit dem Wert des Somalia-Schilling ist auch ihr Vermögen in den Keller gegangen.
«Gib es mir.» Kawsar presst das Kästchen an ihre Brust, und ihr fällt ein, dass der Schlüssel im Rahmen von einem der Wandteppiche verstecktist. Sie zeigt darauf, Deqo nimmt ihn vom Nagel, und der Schlüssel fällt zu Boden.
«Hast du ihn?»
«Ja!» Deqo springt triumphierend hoch und lässt den Schlüssel in Kawsars Hand fallen.
«Holt warme Kleidung aus dem Schrank.» Kawsar kommt sich seltsam und albern vor, wie sie die anderen von diesem idiotischen Thron herab herumkommandiert, bemüht sich aber, ihren gebieterischen Tonfall beizubehalten.
«Nein, wir wollen uns nicht zu sehr belasten.» Filsan spricht leise, aber mit einer gewissen Schärfe.
«Dann nehmt eben beide nur einen Pullover!» Kawsar bleibt hartnäckig und zeigt auf den Schrank.
Deqo, die genau weiß, wie kalt Wüstennächte sein können, befolgt Kawsars Anweisungen und sammelt warme Kleidung zusammen.
Filsan packt die Griffe und hebt die Schubkarre an. «Geht das so für dich?»
Vor Angst, gleich herauszufallen, klammert sich Kawsar an den Karrenwänden fest, fängt sich aber wieder. «Lassen wir’s drauf ankommen.»
Deqo bildet die Vorhut, Filsan schiebt von hinten, und so verlässt Kawsar schließlich ihren Bungalow. Sie ähnelt einer Eidechse, die aus
Weitere Kostenlose Bücher