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Der Gast des Kalifen

Titel: Der Gast des Kalifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Lawhead
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die Arme und Beine unseres Erlösers durchbohrt hatten, und auf das Blut auf dem groben Holz.
    Ich kniete nieder, legte ehrfürchtig die Hand auf den Stamm und fühlte das raue, harte Holz. Dann hörte ich plötzlich Stimmen hinter mir. Ich glaubte, die Legionäre seien wieder zurückgekehrt; doch als ich mich umdrehte, sah ich mich selbst neben einem Brunnen schlafen.
    Alsgleich befand ich mich wieder in Emir Ghazis Lager.
    Der Mond war untergegangen; die Sterne verblassten, und im Osten zeigte sich das erste Grau der Morgendämmerung, während ich mich wieder an meinem Schlafplatz vor den Toren von Damaskus befand.
    Ich stand auf. Das Lager war ruhig; nichts hatte sich verändert. War ich wirklich ins Zelt des Emirs geschlichen? Oder war ich eingeschlafen und hatte das alles nur geträumt? Es spielte alles keine Rolle. Ich wusste, dass mir eine Vision von außergewöhnlicher Kraft und Seltenheit zuteil geworden war. Ich spürte ein seltsames Kribbeln im Gesicht und in den Händen, und der Boden unter meinen Füßen fühlte sich wie Wasser an.
    Mein Körper begann zu zittern - nicht aus Furcht oder aus einer düsteren Vorahnung heraus, sondern aus wilder Leidenschaft. Ich verspürte das Verlangen, zu singen und zu tanzen; ich wollte meine Hände gen Himmel erheben und meinem gütigen Schöpfer
    für die wunderbare Vision danken, die er mir geschenkt hatte.
    Nur mit großer Mühe konnte ich mich davon abhalten, laut aufzulachen und das ganze Lager durch den Lärm zu wecken. Also blieb ich vollkommen still neben dem Brunnen liegen, doch bebte ich vor Erregung; Freude strömte durch meine Adern, aber nicht wie Wasser, sondern wie ein süßer, schwerer Wein.
    Als die Sonne im Osten über den Hügeln erschien, stand ich auf, kniete nieder, blickte zur Sonne empor, breitete die Arme aus und schwor feierlich und von ganzem Herzen, mir die gleiche Demut, die gleiche Kraft und den gleichen Mut anzueignen, die ich bei unserem Herrn Jesus Christus in der Stunde seines Todes gesehen hatte, aufdass ich mich des Opfers unseres Erlösers als würdig erweisen mochte.

    17. N ovember 1901;
    P aphos , Z ypern
    All rofessor Rossides lebte im Erdgeschoss eines kleinen Stadthauses.
    W Die oberen Stockwerke hatte ein Violinlehrer gemietet, und während ich im Halbdunkel vor der schlichten braunen Tür stand und darauf wartete, dass mein Gastgeber auf mein Klingeln antwortete, hallte ein Duett für Violine und Cello die Treppe hinunter.
    Erneut zog ich an der Klingelschnur, wartete noch etwas und wollte gerade aufgeben und wieder nach Hause gehen, als ich schlurfende Schritte aufder anderen Seite vernahm. Dann wurde ein Schlüssel im Schloss umgedreht, und die Tür schwang auf.
    Vor mir stand ein kleiner dunkler Mann mit buschigen Augenbrauen und einer widerspenstigen Masse dicken, gewellten Haares, das ihm nach allen Seiten vom Kopf abstand. Ich fühlte mich an einen Seemann erinnert, der stundenlang einem wilden Sturm ausgesetzt gewesen war. Nur mit Mühe vermochte ich mich von dem erstaunlichen Anblick loszureißen, und ich sagte: »Professor Rossides? Ich bin Gordon Murray. Man hat mir zu verstehen gegeben, dass Sie mich erwarten.«
    Bei Erwähnung meines Namens erwachte das schläfrige Gesicht des Mannes zum Leben. »Das ist in der Tat so, Sir! Sie sind sehr pünktlich.« Er lächelte, seine dunklen Augen begannen zu funkeln, und sein Gesicht nahm einen jungenhaften, gewinnenden Ausdruck an. »Bitte, kommen Sie herein, Mr Murray.« Er nahm mir den Mantel ab und winkte mich zu einem Stuhl an einem Tisch mit dünnen Beinen, auf dem gefährlich hohe Stapel aus Büchern und Papieren lagen. Über dem Tisch hing eine Messinglampe mit grünem
    Glasschirm, deren Licht die Papierstapel beleuchtete wie die Sommersonne eine Highlandebene.
    »Zeit ist kostbar«, verkündete Professor Rossides. »Wir werden sofort beginnen.« Dann rezitierte er das griechische Alphabet, liefhin-ter mir auf und ab und schlug bei jedem Buchstaben die Faust in die Hand. Nach zwei Wiederholungen forderte er mich auf, es ihm nachzutun. So arbeiteten wir neunzig Minuten ohne Unterlass, und als ich mich gerade an die unvertrauten Laute zu gewöhnen begann, erklärte er die Lektion für beendet.
    »Hervorragend! Hervorragend!«, riefer und strahlte mich an, als wäre ich ein Preisbulle. »Sie sind der geborene Gelehrte, Mr Murray. Gemeinsam werden wir das Unmögliche vollbringen.«
    »Ich wäre schon mit dem Passablen sehr zufrieden«, erwiderte ich.
    Der Professor

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