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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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verrottende Kern der Bürokratie vom Chaos infiziert war; und das bedeutete, daß die Dinge schlechter standen, als er gedacht hatte.
    Weil man ihm die Ausreise gestattet hatte, kam Lemuel zu dem Schluß, es sei an der Zeit, den Koffer zu packen.
    Den Direktor des Instituts hatte er zwölf Jahre zuvor auf einem Symposium über den relativ jungen Wissenschaftszweig Chaostheorie kennengelernt. Lemuel, der um einen Vortrag gebeten worden war, hatte die versammelten Fachleute mit seiner Arbeit über Pi beeindruckt, also über die transzendente Zahl, die man erhält, wenn man den Umfang eines Kreises durch seinen Durchmesser dividiert. Auf der Suche nach der reinen, unverfälschten Zufälligkeit hatte Lemuel einen ostdeutschen Großrechner programmiert und Pi auf fünfundsechzig Millionen dreihunddreiunddreißigtausendsiebenhundertvierundvierzig Dezimalstellen berechnet (damals Weltrekord), ohne irgendwelche Anzeichen für eine Ordnung in der Dezimalentwicklung von Pi zu entdecken. Der Direktor, der nicht nur von der Originalität, sondern auch von der Eleganz von Lemuels Vortrag angetan war, hatte dafür gesorgt, daß der Text in der angesehenen Vierteljahreszeitschrift des Instituts abgedruckt wurde. Dem ersten Artikel waren weitere gefolgt. Nachdem er durch die Entdeckung potentiell reiner Zufälligkeit in der Dezimalentwicklung von Pi berühmt geworden war, begann Lemuel, im wesentlichen ein Zufallsforscher, der in Chaosforschung dilettierte, das zu erkunden, was er »Falks Zwischenreich« nannte, das graue Niemandsland, wo sich Zufälligkeit und Chaos überschneiden. Jedesmal, wenn jemand ein Beispiel für reine, unverfälschte Zufälligkeit gefunden zu haben meinte, unterzog es Lemuel den strengen Verfahren der Chaosforschung und führte anschließend den Beweis, daß das, was sich da den Anschein der Zufälligkeit gab, in Wahrheit zwar unberechenbar, dennoch aber determiniert und folglich keineswegs rein zufällig sei. Die Natur, so Lemuel, erzeuge Erscheinungen von so gewaltiger Komplexität und Unberechenbarkeit, daß sie sich dem bloßen Auge als Beispiele reiner Zufälligkeit darstellten. Indes sei diese vermeintliche Zufälligkeit, so führte er in einem Artikel aus, der ihn auch in Amerika bekannt machte, nichts weiter als der Name, den wir unserer Unwissenheit gäben. Wir wüßten einfach noch nicht genug. Unsere Instrumente seien nicht empfindlich genug. Unsere Stichproben erstreckten sich nicht über eine ausreichend lange Zeitspanne – die in der Größenordnung von Jahrmillionen liegen müsse. Sobald man unter der Oberfläche grub, sobald man die Instrumente, mit denen man die Zufälligkeit maß, vervollkommnete, stellte sich (zu Lemuels bitterer Enttäuschung) heraus, daß vermeintlich reine Zufälligkeit überhaupt nicht zufällig war, sondern ein Fußabdruck von dem, was die Physiker und Mathematiker neuerdings als Chaos bezeichneten.
    Seit mehreren Jahren hielt ihm das Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung eine Stelle als Gastprofessor offen; man würde sich glücklich schätzen, war ihm immer wieder versichert worden, wenn er sein Zwischenreich fortan innerhalb der Mauern des Instituts erkunde. An dem Tag, an dem Lemuel das Ausreisevisum im Briefkasten fand, fiel ihm dieses Angebot genau in dem Moment ein, als ihm bewußt wurde, daß er sich unbedingt hinsetzen mußte. Vierzig von seinen sechsundvierzig Jahren war er ständig auf den Beinen gewesen, hatte er angestanden um Lebensmittel und Toilettenpapier, um Scheibenwischer für seinen geliebten Skoda, um Kuraufenthalte am Schwarzen Meer, um Fangopackungen in den Heilbädern, um den Verbleib in der Wohnung, die er mit zwei Ehepaaren teilte, die ständig am Rande der Scheidung lebten – wenn nicht sogar am Rande von Mord und Totschlag. Er hatte sich oft an einer Schlange angestellt, einfach weil sie vorhanden war, ohne zu wissen, was es da eigentlich zu erstehen gab. Er hatte Schlange gestanden, um getraut zu werden, und ein Jahrzehnt danach wieder Schlange gestanden, um seine Scheidung zu bekommen. Im Lauf der Jahre waren ihm die Füße geschwollen. Und das Herz.
    Mit dem Ausreisevisum im Paß hatte sich Lemuel aus Rußland davongestohlen, ohne seiner Exfrau oder seinen Kollegen ein Wort zu sagen, sogar ohne es seiner Tochter zu sagen, der standesamtlich getrauten Frau eines Schwarzhändlers, der den Markt für Computermäuse beherrschte. Der einzige Mensch, dem er sich anvertraut hatte, war seine Gelegenheitsgeliebte,

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