Der Gebirgspass
nicht ihre Mutter, aber sie lebten schon lange zusammen. Als sie in die Siedlung kamen, war Lis noch nicht mal ein Jahr alt gewesen, sie war die Jüngste. Ihre Mutter war auf dem Paß erfroren, vielleicht auch in eine Schneelawine geraten. Oleg erinnerte sich nicht mehr genau. Ihr Vater aber war schon eher ums Leben gekommen. Kristina hatte Lis all die Tage auf den Armen getragen. Sie war damals eine kräftige, mutige Frau, und sie hatte noch ihre Augen. So blieben sie beisammen. Später erblindete Kristina, der Grund war die bewußte Kollerdistel: Man hatte noch nicht gelernt, mit ihr fertigzuwerden. So war die Frau blind geworden. Sie verließ selten das Haus. Nur im Sommer und nur, wenn es nicht regnete. Mittlerweile hatten sich alle an den Regen gewöhnt, nahmen keine Notiz mehr von ihm. Sie nicht — regnete es, ging sie um nichts in der Welt ins Freie. War es dagegen trocken, schaute sie manchmal zur Tür hinaus, setzte sich auf eine Treppenstufe und wartete. Wenn dann jemand vorüberkam, erriet sie am Schritt, wer es war, und begann ihm ihr Leid zu klagen. Der Alte behauptete, Kristina wäre nicht mehr ganz normal. Früher war sie eine bedeutende Astronomin gewesen, eine sehr bedeutende sogar. Lis hatte einmal zu Oleg gesagt: „Stell dir die Tragödie eines Menschen vor, der ein Leben lang die Sterne betrachtet hat, dann in einen Wald gerät, wo es keine Sterne gibt, und zu allem Überfluß erblindet. Kannst du das denn nicht verstehen?“
„Natürlich“, sagte Kristina in diesem Augenblick, „bringt sie irgendwohin. Weshalb soll sie mit mir krepieren?“
Oleg ertastete auf dem Bord die Büchse mit dem Öl, goß etwas davon in die Lampe und zündete sie an. Es wurde sogleich hell, und man sah das breite Bett, in dem unter Fellen Kristina und Lis nebeneinander lagen. Oleg wunderte sich immer wieder, wie ähnlich sich die beiden sahen. Man hätte nie für möglich gehalten, daß sie nicht verwandt waren. Beide weißhäutig und blond, mit breiten flachen Gesichtern und weichen Lippen. Nur daß Lis grüne Augen hatte, während die von Kristina geschlossen waren. Aber auch sie hatte, wie behauptet wurde, früher grüne Augen gehabt.
„Das Öl reicht noch für eine ganze Woche“, sagte Oleg, „dann wird der Alte euch neues bringen. Ihr braucht nicht zu sparen, wozu im Finstern sitzen.“
„Schade, daß ich krank geworden bin“, sagte Lis, „ich wär gern mit dir gekommen.“
„Das nächste Mal“, sagte Oleg.
„Ja … in drei Jahren.“
„Nein, in einem.“
„Nur daß dieses eine Jahr nach unserer Rechnung drei bedeutet. Dabei bin ich schwach auf der Lunge.“
„Bis zum Winter ist es noch eine Weile hin, dann bist du wieder gesund.“
Oleg begriff, daß er nicht das sagte, was das Mädchen mit dem breiten weißen Gesicht von ihm erwartete. Wenn sie vom Paß und dem Marsch dorthin sprach, hatte sie etwas ganz anderes im Sinn: Sie wünschte sich, daß Oleg immer bei ihr wäre, denn sie hatte Angst allein. Oleg bemühte sich, höflich zu sein, doch das gelang ihm nicht immer. Er ärgerte sich über Lis, weil ihre Augen stets um etwas zu bitten schienen.
Kristina erhob sich vom Bett, griff nach ihrem Stock und tappte zum Herd. Sie kam in allem allein zurecht, zog es aber vor, sich von den Nachbarn helfen zu lassen. „Das ist doch zum Verrücktwerden,“ murmelte sie. „Ich, eine angesehene Wissenschaftlerin, eine Frau, früher berühmt für ihre Schönheit, bin gezwungen, in diesem Stall zu leben, von allen verlassen, vom Schicksal gedemütigt …“
„Oleg“, sagte Lis und stützte sich auf den Ellbogen. Ihre große weiße Brust kam zum Vorschein, und Oleg wandte sich ab. „Geh nicht mit ihnen, Oleg. Du kommst nicht wieder, ich weiß es, du kommst nicht wieder. Ich habe so eine Vorahnung …“
„Soll ich dir Wasser bringen?“ fragte Oleg.
„Es ist noch Wasser da“, erwiderte Lis. „Du willst nicht auf mich hören. Aber tu’s ein einziges Mal im Leben, bitte!“
„Ich muß jetzt los.“
„Tu, was du nicht lassen kannst“, sagte Lis.
Als er schon an der Tür war, rief sie ihm hinterher. „Sieh nach Oleshka, ob du dort eine Medizin gegen den Husten findest. Für Kristina. Wirst du’s auch nicht vergessen?“
„Ich werd dran denken.“
„Natürlich wird er’s vergessen“, sagte Kristina, „und das wär nicht mal verwunderlich.“
„Oleg!“
„Ja?“
„Du hast mir nicht auf Wiedersehen gesagt.“ „Auf Wiedersehen.“
Der Alte wusch sich über dem Becken in der Küche. „Große
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