Der Gebirgspass
Leben“, erwiderte Luisa ohne sich umzudrehen. An der Tür blieb sie stehen und sagte, an Oleg gewandt: „Du hast über den Aufregungen vergessen, bei Kristina vorbeizuschaun. Das ist wirklich nicht schön, sie warten doch auf dich.“
Aber ja, natürlich, schon vor einer Stunde hatte er dort sein sollen! Er sprang auf: „Ich geh gleich hin!“
„Schon gut, ich schau selbst vorbei, hab’s bloß wegen der Disziplin gesagt.“ Tante Luisa winkte ab. „Ich füttere nur schnell das Waisenkind, dann geh ich hin.“
„Das ist wirklich nicht nötig.“ Oleg lief hinter Tante Luisa aus dem Haus. Erst da fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, Egli für das heiße Wasser und den Zucker zu danken, doch Umkehren war nicht mehr gut möglich.
Sie gingen nebeneinander, es war nicht weit. Lief man am Zaun entlang, konnte man die ganze Siedlung in gut zwei Minuten umrunden.
Die Häuser unter den schiefen pultförmigen Dächern standen dicht bei dicht, drängten sich zu beiden Seiten des geraden Pfades, der das Dorf in zwei Hälften zerschnitt: vom Tor im Zaun bis zum Gemeinschaftsschuppen und dem Vorratslager. Die Dächer, mit den langen, flachen, rosafarbenen Blättern der Wassertulpen gedeckt, glänzten unterm Regen, spiegelten den stets grauen, stets trüben Himmel. Vier Häuser auf der einen Seite, sechs auf der anderen. Drei der Häuser waren leer — nach der Epidemie im Vorjahr.
Kristinas Haus war das vorletzte, dahinter kam nur noch das von Dick. Luisa wohnte gegenüber.
„Hast du keine Angst, dorthin zu gehn?“ fragte Tante Luisa.
„Es muß sein“, antwortete Oleg.
„Eine Antwort, die eines Mannes würdig ist“, Tante Luisa lächelte aus unerfindlichem Grund.
„Und Sergejew, läßt er Marjana nicht mitgehn?“ fragte Oleg.
„Keine Bange, sie kommt schon mit, deine Marjana.“
„Uns wird nichts passieren“, sagte Oleg. „Wir sind zu viert, bewaffnet und schließlich nicht das erste Mal im Wald.“
„Im Wald, das ist wahr“, stimmte Tante Luisa zu. „Die Berge aber sind etwas ganz anderes.“
Sie waren zwischen Kristinas und Luisas Haus stehengeblieben. Die Tür zu Luisas Haus war angelehnt, man konnte dort ein Paar glänzender Augen sehen: Das Findelkind wartete auf die Tante.
„In den Bergen ist’s zum Fürchten“, sagte Luisa. „Ich werd mein Lebtag nicht vergessen, wie wir dort umherirrten. Die Leute sind buchstäblich vor unseren Augen erfroren. Wenn wir morgens aufstanden, wurden einige nicht mehr wach.“
„Jetzt ist Sommer“, sagte Oleg, „es gibt keinen Schnee.“
„Das sind doch alles nur Märchen, nichts als Wunschträume. In den Bergen liegt immer Schnee.“
„Wenn wir absolut nicht durchkommen“, sagte Oleg, „machen wir kehrt.“
„Tut das. Macht lieber kehrt.“
Luisa bog zu ihrer Tür ab, und der kleine Kasik begann vor Freude zu kreischen. Oleg stieß die Tür von Kristinas Haus auf.
Hier war es stickig, ein säuerlicher Geruch hing in der Luft. Der Schimmel hatte die Wände bereits wie mit Tapeten zugedeckt, und obwohl er von kräftigem Gelb und Orange war, wurde es davon nicht heller im Raum. Die Lampe brannte auch nicht.
„Grüß euch“, sagte Oleg und hielt die Tür einen Spaltbreit offen, um zu erkennen, wo sich die beiden im dunklen Zimmer aufhielten, „Schlaft ihr?“
„Oh“, sagte Kristina, „du bist ja doch noch gekommen, ich dachte schon, du hättest es vergessen. Da ihr beschlossen habt, in die Berge aufzubrechen — wozu noch an mich denken?“
„Hör nicht auf sie, Oleg“, ließ sich leise, sehr leise, fast flüsternd Lis vernehmen, „sie murrt die ganze Zeit. Auch mich brummt sie an. Das geht von morgens bis abends. Wie satt ich das habe.“
Oleg tastete sich zum Tisch, suchte ihn mit den Händen ab. Er fand die Lampe, holte Feuerstein und Zunder aus einem Beutel an seinem Gürtel.
„Weshalb sitzt ihr im Dunkeln?“ fragte er.
„Wir haben kein Öl mehr“, antwortete Lis.
„Wo ist die Büchse?“
„Hörst du nicht, wir haben kein Öl“, sagte Kristina. „Wem sind wir zwei hilflosen Frauen schon von Nutzen? Wer soll uns Öl bringen?“
„Das Öl ist auf dem Wandbord, rechts von dir“, sagte Lis. „Wann brecht ihr auf?“
„Nach dem Mittagessen“, sagte Oleg. „Wie fühlst du dich, hast du noch Schmerzen in der Brust?“
„Mir geht’s gut. Wenn nur diese Schwäche nicht wäre.“
„Egli sagte, daß du in drei Tagen wieder aufstehn kannst. Sollen wir dich zu Luisa bringen?“
„Ich laß Mutter nicht allein“, erwiderte Lis.
Kristina war
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