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Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirill Bulytschow
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verteidigte er ihn.
„Die Lieder tun hier nichts zur Sache“, erwiderte der
Alte. „Lieder sind die Morgenröte der Zivilisation. Für die
Kleinen jedenfalls ist Dick ein Idol. Dick der Jäger! Und
für euch Weiber ist er das große Vorbild: Seht nur den
Dick, das ist ein guter Junge! Für die jungen Mädchen aber
ist er geradezu ein Ritter. Ist dir schon mal aufgefallen, wie
Marjaschka ihn anhimmelt?“
„Soll sie doch. Wenn die beiden heiraten, kann’s für das
Dorf nur gut sein.“
„Mama!“ Oleg hielt es nicht mehr aus.
„Was hast du denn?“ Die Mutter, nahm wie üblich
nichts um sich her wahr, lebte in ihrer eigenen Welt, käute
die alten Dinge wieder.
„Anscheinend bist du froh über die Welt der Dicks, eine Welt der Wilden?!“ Der Alte war wütend, donnerte sogar mit der Faust auf den Tisch. „Eine Welt erfolgreicher,
schnellfüßiger Wilder!“
„Und was hättest du als Ersatz anzubieten?“
„Ihn zum Beispiel.“ Der Alte legte seine schwere Hand
in Olegs Nacken. „Olegs Welt ist meine Welt, sie ist auch
deine, nur daß du dich von ihr lossagen willst, obwohl dir
nie eine andere gegeben wurde.“
„Ich fürchte, du irrst, Borja“, sagte die Mutter. Sie ging
in die Küche, nahm die Schüssel mit dem kochenden
Wasser vom Feuer und brachte sie ins Zimmer. „Wir haben
keinen Zucker mehr.“
„Ich auch nicht“, sagte der Alte. „Die Wurzeln sind dies
Jahr mager und nicht sehr süß. Egli sagt, wir müssen einen
Monat ohne Zucker auskommen. Müssen wir uns eben mit
Brot behelfen. Du bist doch eine intelligente Frau und
mußt begreifen, daß wir als Gesellschaft zum Aussterben
verurteilt sind, wenn wir auf Leute wie Dick setzen, wenn
Wilde und Jäger unsere Nachfolge antreten.“
„Ich bin nicht einverstanden mit dir“, sagte die Mutter.
„Wir müssen in erster Linie überleben. Ich spreche jetzt
nicht von mir persönlich, sondern von der Siedlung. Von
den Kindern. Wenn ich Dick und Marjana betrachte, regt
sich Hoffnung in mir. Du bezeichnest sie als Wilde, ich
aber glaube, sie könnten sich anpassen. Wenn sie jetzt
umkämen, wäre das unser aller Ende. Das Risiko ist zu
groß.“
„Das heißt also, ich habe mich nicht angepaßt?“ fragte
Oleg.
„Zumindest weniger als die anderen.“
„Du hast einfach Angst um mich“, sagte Oleg, „deshalb
willst du nicht, daß ich in die Berge gehe. Dabei schieße
ich mit der Armbrust besser als Dick.“
„Natürlich hab ich Angst um dich, du bist doch mein
Einziger. Du bist alles, was mir geblieben ist. Und doch
entfernst du dich von Tag zu Tag mehr von mir, gehst
deine eigenen Wege, wirst ein Fremder.“
Der Alte ging mit gleichmäßigen Schritten im Zimmer
auf und ab, das tat er immer, wenn er unzufrieden mit
seinen Schülern war, wenn sie es an Fleiß fehlen ließen. Er
bückte sich, hob den Globus vom Schemel hoch, den er aus
einem riesigen Pilz gefertigt hatte — er war in jenem
Winter neben dem Schuppen gewachsen. Er und Oleg
hatten damals Farben und bunten Lehm gerieben, den
Marjana und Lis am Bach gefunden hatten; es war übrigens
der gleiche Lehm, aus dem sie jetzt Seife herstellten. Sie
trockneten ihn, und heraus kamen zwei Farben weiß und
grau. Der Pilz selbst war fliederfarben. Der Alte hatte aus
der Erinnerung sämtliche Kontinente und Ozeane
aufgezeichnet. Der Globus, von Anfang an etwas blaß,
verwischte sich im Laufe der Jahre noch und sah bald aus
wie eine runde Wolke.
Der Alte hielt den Globus auf der Handfläche. „Atlas“, sagte die Mutter.
Oleg bemerkte einen kleinen rosa Schimmelfleck auf
dem Tisch. Er war im Gegensatz zum gelben Schimmel
giftig. Der Junge wischte ihn vorsichtig mit dem Ärmel ab.
Ein dummes Gefühl, wenn einem die leibliche Mutter
einen anderen vorzog. Es war im Grunde Verrat,
regelrechter Verrat.
„Wir beide werden sterben“, sagte der Alte.
„Ist auch gut so“, erwiderte die Mutter, „wir haben
lange genug gelebt.“
„Und doch haben wir’s nicht eilig mit dem Sterben,
klammern uns ans Leben.“
„Weil wir feige sind“, sagte die Mutter.
„Du hattest immer Oleg.“
„Nur für ihn hab ich durchgehalten.“
„Wir beide werden sterben“, wiederholte der Alte, „das
Dorf aber muß am Leben bleiben. Andernfalls hätte unser
beider Existenz keinen Sinn gehabt.“
„Ein Stamm von Jägern hätte größere Chancen zu
überleben“, sagte die Mutter.
„Nein, mehr Chancen hätte unser Dorf mit solchen
Leuten wie Oleg“, widersprach der Alte. „Wenn unser
Stamm von Dick und seinesgleichen regiert

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