Der Gebirgspass
hastig den Sack ab, den sie über der Schulter trug.
„Hast du was vergessen?“ fragte Dick.
„Nein … oder doch … Ich würd gern noch mal zu meinem Vater rüberschaun …“
„Komm jetzt, Marjaschka“, sagte Thomas. „Je eher wir losgehn, desto schneller sind wir zurück.“
Oleg sah, daß Marjanas Augen voller Träne waren. Es fehlte nicht viel, und sie würden ihr über die Wangen laufen. Das Mädchen war hinter den anderen zurückgeblieben. Oleg ging zu ihr und sagte: „Ich hätte auch am liebsten noch mal kehrtgemacht. Wenigstens einen Blick vom Hügel aus zurückgeworfen.“
„Ist das wahr?“
Sie gingen schweigend nebeneinander her. Etwa dreißig Schritt hinter dem Zaun, wo sich zäh und hinterlistig Buschwerk breitmachte, blieben sie stehen. Luisa gab jedem einen Kuß, der Alte verabschiedete sich mit Handschlag, von Oleg zuletzt.
„Ich setze große Hoffnungen auf dich“, sagte er. „Mehr als auf Thomas. Thomas sorgt sich um das Wohl des Dorfes, ums Heute, du mußt an die Zukunft denken. Verstehst du, was ich meine?“
„Aber ja“, sagte Oleg. „Kümmert euch um Mutter, damit sie nicht so allein ist. Ich bringe das Mikroskop mit.“
„Danke. Und kommt bald wieder.“
Dick tauchte als erster ins Gesträuch ein, leicht und behende hieb er die zähklebrigen Blattfühler mit der Lanzenspitze weg. „Haltet euch dicht hinter mir“, sagte er, „sonst sind sie gleich wieder da.“
Oleg drehte sich nicht um, es blieb keine Zeit. Versuchte er es doch, würde ihm sofort einer der Zweige am Schuh kleben, den er dann nur mit Mühe wieder herunterbekäme. Drei
Wochen lang würde er danach stinken. Ein widerliches Gebüsch.
Bei Anbruch der Dämmerung langten sie an den Felsen an, genau wie Thomas es berechnet hatte.
Der Wald reichte nicht ganz bis zu den Felsen, ihre rotleuchtenden Zähne ragten aus der kahlen, hier und da von Flechten bedeckten Niederung. Tiefhängende Wolkenfetzen flogen so dicht vorüber, daß die Bergzacken ihnen die Bäuche aufschlitzten und in dem grauen Dunst verschwanden. Thomas sagte, daß die Höhle, in der er letztes Mal übernachtet hatte, trocken sei und leicht zu erreichen. Alle außer Dick waren erschöpft. Aber selbst wenn er müde wäre — Dick würde es niemals zugeben, nur die Zähne zusammenbeißen.
„Damals war es kälter“, sagte Thomas. „Damals waren wir noch der Meinung, der Frost sei günstig, weil wir dann leichter durch die Sümpfe kämen. Dafür war der Gebirgspaß unpassierbar. Ich weiß noch, wie es unter unseren Füßen nur so vor Frost klirrte.“
Zwischen ihnen und den Bergen befand sich ein runder weißlicher Fleck von etwa zwanzig Metern Durchmesser.
„Hier hat es geklirrt?“ erkundigte sich Dick, der voranging. Er blieb abrupt am Rand des Fleckens stehen. Seine Oberfläche glänzte matt wie Kiefernrinde.
„Ja“, Thomas blieb neben Dick stehen.
Oleg war ein Stück zurückgeblieben. Er hatte vor einer Stunde Marjanas Sack übernommen, damit sie nicht so schleppen mußte. Das Mädchen wollte ihn nicht hergeben, doch Thomas sagte: „Das ist ganz in Ordnung. Morgen helfe ich beim Tragen, dann Dick.“
„Weshalb denn tragen helfen?“ sagte Dick. „Heut nacht schmeißen wir alles Überflüssige aus ihrem Beutel raus und verteilen den Rest auf unsere Säcke. Da merken wir’s kaum, und Marjaschka hat’s auch leichter. Das hätten wir uns übrigens schon eher überlegen können. Haben uns zwei Monate vorbereitet und sind nicht drauf gekommen.“
Möcht mal wissen, wer sich das hätte überlegen sollen, dachte Oleg. Machst dir genauso gescheite Gedanken wie die andern auch. Und was sie nicht alles hatten einfach mitschleppen müssen! Zwar behauptete Dick, sie brauchten sich ums Essen keine Sorgen zu machen, er als Jäger würde schon Nahrung herbeischaffen, trotzdem nahmen sie Dörrfleisch, Wurzeln und getrocknete Pilze mit. Die Hauptlast aber war das Holz — ohne Holz konnten sie weder Wasser heiß machen noch die Tiere vertreiben.
„Weißt du, woran dieser Fleck erinnert?“ sagte Marjana, als sie die Männer eingeholt hatte. „An den Hut eines Pilzes. Eines Riesenpilzes.“
„Kann schon sein“, sagte Dick, „es ist besser, wir machen einen Bogen um ihn.“
„Wozu?“ erwiderte Oleg. „Übers Geröll müssen wir mühsam klettern.“
„Ich versuch’s mal, ja?“ sagte Marjana, ließ sich auf die Knie nieder und holte ein kleines Messer hervor. „Was hast du vor?“ fragte Thomas.
„Ich schneid ein Stück ab und rieche dran. Wenn es
Weitere Kostenlose Bücher