Der Gebirgspass
würde, gäbe es
in hundert Jahren niemanden mehr, der um unsere
Herkunft und den Sinn des Lebens weiß. Das Recht der
Starken, die Gesetze der Urgesellschaft würden Oberhand
gewinnen.“
„Und die Menschen würden fruchtbar sein und sich mehren“, sagte die Mutter. „Ihre Zahl würde wachsen, sie würden das Rad erfinden und tausend Jahre später die Dampfmaschine.“ Die Mutter lachte auf; es klang, als
schluchzte sie. Sie zog die Nase hoch.
„Das ist ein Scherz, nicht wahr?“ sagte Oleg. „Irina meint das völlig ernst“, erwiderte der Alte. „Der
Kampf um die Existenz in seiner elementaren Form führt
unweigerlich zum Regreß. Überleben um einen solchen
Preis, um den Preis des Eingewöhnen in die Natur, der
Annahme ihrer Gesetze bedeutet nichts anderes als sich
ergeben.“
„Aber immerhin zu überleben“, sagte die Mutter. „So denkt sie gewiß nicht“, sagte Oleg.
„Natürlich denkt sie nicht so“, stimmte der Alte zu. „Ich
kenne Irina schon zwanzig Jahre und weiß, daß sie nicht so
denkt.“
„Ich ziehe es vor, überhaupt nicht zu denken“, sagte die
Mutter.
„Das ist nicht wahr“, widersprach der Alte, „Wir alle
denken an die Zukunft, haben unsere Ängste und
Hoffnungen. Andernfalls würden wir aufhören, Mensch zu
sein. Gerade die Last des Wissens, mit dem Dick sich nicht
beladen will, an dessen Stelle er die simplen Gesetze des
Waldes setzt, vermag uns zu retten. Solange es diese
Alternative gibt, können wir hoffen.“
„Und wegen dieser Alternative jagst du Oleshka in die
Berge?“
„Nein, um das Wissen zu bewahren, um unser beider
willen. Um gegen die Sinnlosigkeit zu kämpfen, ist das so
schwer zu verstehen?“
„Du warst schon immer ein Egoist“, sagte die Mutter. „Und dein blinder Mutteregoismus zählt wohl gar
nicht?“
„Weshalb bestehst du auf Oleg? Er ist schwach, er
übersteht den Marsch nicht.“
Das hätte sie nicht sagen dürfen, sie begriff es sofort
selber und sah Oleg aus flehenden Augen an: er möge
begreifen, sich nicht gekränkt fühlen.
„Schon gut, Mama“, sagte Oleg, „ich versteh das ja
alles. Die Sache ist nur, daß ich dorthin will, vielleicht
mehr als alle andern. Dick würde mit dem größten
Vergnügen hierbleiben, das weiß ich. Die Rentiere gehen
bald auf Wanderschaft — die richtige Zeit für die Jagd in
der Steppe. Wie gesagt, er würde lieber hierbleiben.“ „Wir brauchen ihn aber auf dem Marsch“, sagte der
Alte. „Sosehr mich die Aussicht auf seine Macht erschreckt
— heute können uns sein Geschick, seine Kraft retten.“ „Retten!“ Die Mutter riß den Blick von Oleg los. „Du
schwafelst dauernd von Rettung. Glaubst du denn selbst
daran? Dreimal sind unsre Leute in die Berge
aufgebrochen, aber wie viele sind zurückgekehrt? Und mit
welchem Ergebnis?“
„Damals waren wir noch unerfahren. Wir kannten die
hiesigen Gesetze nicht. Wir zogen los, als auf dem Gebirgspaß Schnee lag. Jetzt wissen wir, daß er erst gegen Ende des Sommers taut. Für jedes Wissen muß man
bezahlen.“
„Wären jene Leute damals nicht zugrunde gegangen,
wir würden besser leben. Wir hätten mehr Ernährer im
Dorf.“
„Das stimmt zwar, aber auch sie würden dem Gesetz der
Degradation unterliegen. Entweder wir sind Teil der
Menschheit und bewahren ihr Wissen, streben danach, oder
wir sind Wilde ohne jede Perspektive.“
„Du bist ein Idealist, Borja. Ein konkretes Stück Brot ist
heute wichtiger als eine abstrakte Ananas.“
„Aber du entsinnst dich noch an den Geschmack von
Ananas?“ Der Alte drehte sich zu Oleg um, erklärte:
„Ananas ist eine tropische Frucht mit einem ganz
spezifischen Geschmack.“
„Schon verstanden“, sagte Oleg. „Ein ulkiges Wort …
Mutter, mach die Suppe warm, wir müssen bald los.“
„Denk an das Papier“, wiederholte der Alte, „und wenn’s ein Dutzend Blätter sind.“
„Du bekommst dein Papier“, sagte Thomas.
Jene, die aufbrechen sollten, versammelten sich am Zauntor, die anderen fanden sich zu ihrer Verabschiedung ein. Alle gaben sich den Anschein, als handle es sich um einen gewöhnlichen Marsch, etwa zum Sumpf, um Wurzeln zu holen, doch das Lebewohl war wie für immer. So jedenfalls empfand es Oleg.
Wer fortging, war warm angezogen — man hatte in der ganzen Siedlung gesammelt. Tante Luisa hatte die Sachen eigenhändig zusammengetragen und für den Betreffenden passend gemacht. Oleg konnte sich nicht entsinnen, daß er jemals so warm ausstaffiert war. Nur Dick nahm nichts Überflüssiges mit. Er nähte
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