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Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirill Bulytschow
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sich auch alles selbst.
Der Regen hatte fast aufgehört, in den Pfützen um die Zaunpfosten tummelten sich laut piepsend die Schwimmkäfer. Das verhieß gutes Wetter.
Thomas, mit einem Blick auf die Schwimmkäfer, sagte: „Wenn der Regen aufgehört hat, müßten die Pfosten befestigt werden.“
„Mach dir darüber keine Gedanken“, erwiderte Tante Luisa, „wir kommen schon ohne dich zurecht.“
„Bringst du mir was Schönes mit, Papa?“ fragte die rothaarige Ruth, Thomas’ Tochter.
„Laß das“, sagte seine Frau, „nicht mal denken solltest du an so etwas. Das wichtigste ist, daß Papa zurückkehrt … Bind dir was um den Hals, du hustest wieder.“
„Vom Paß aus mußt du dich rechts halten“, sagte Waitkus zu Thomas. „Erinnerst du dich?“
„Ja“, Thomas lächelte. „Ich weiß es noch wie heute. Aber du solltest dich jetzt hinlegen, du mußt morgen früh raus.“
Die Mutter hielt Olegs Hand, und er wagte nicht, sie ihr zu entziehen, obwohl es ihm vorkam, als läge in Dicks Augen ein spöttisches Lächeln.
Die Mutter wollte sie bis zum Friedhof begleiten, doch Sergejew hielt sie zurück. Er ließ niemanden mitgehn außer dem Alten und Luisa.
Oleg drehte sich mehrmals um. Die Mutter stand reglos da, mit erhobener Hand, als wollte sie winken und hätte es vergessen. Sie konnte nur mit Mühe ein Weinen zurückhalten. Über dem Zaun waren die Köpfe der Erwachsenen zu sehen: die Mutter, Sergejew, Waitkus … etwas weiter unten aber zeichneten sich durch den Stacheldraht hindurch dunkel die Gestalten der Kinder ab. Ein paar Menschen in einer Reihe, dahinter die schrägen, unterm Regen glänzenden rosa Dächer einer Handvoll Häuschen.
Am Hügel drehte sich Oleg ein letztes Mal um. Noch immer standen alle am Zaun, nur eins der Kinder war zur Seite gerannt und machte sich neben einer Pfütze zu schaffen. Von hier oben war Straße zu sehen — der Pfad zwischen den Hütten. Und die Tür von Kristinas Haus. Eine Frau stand in der Tür, nur konnte man vom Hügel aus nicht erkennen, ob es Lis oder Kristina war. Bald darauf war die Siedlung hinter der Hügelkuppe verschwunden.
Der Friedhof war gleichfalls von einem Zaun umgeben. Bevor Dick die Pforte öffnete, schaute er nach, ob nicht inzwischen irgendein Tier Unterschlupf gefunden hatte, was durchaus möglich schien. Oleg sagte sich, daß er selbst wahrscheinlich nicht daran gedacht hätte.
Seltsam, daß es weit mehr Gräber unter den Platten aus Weichschiefer gab, den sie von den nahegelegenen Felsen geschlagen hatten, als Leute im Dorf. Obwohl die Siedlung erst sechzehn Jahre existierte. Olegs Vater lag nicht hier, er war hinter dem Gebirgspaß zurückgeblieben.
Dick blieb vor zwei gleichaltrigen Grabplatten stehen, die sorgfältiger behauen waren als die übrigen. Hier lagen seine Eltern. Wind kam auf, kalt und lästig. Der Alte ging von Grab zu Grab — er kannte sie alle. Wieviel Leute waren sie vor sechzehn Jahren gewesen? Wohl sechsunddreißig Erwachsene und vier Kinder. Und wie viele waren noch übrig? Neun Erwachsene und drei von jenen Kindern, die es bis hierher geschafft hatten. Ganze drei: Dick, Lis und Oleg. Marjana war bereits hier geboren, genau wie zwölf weitere Kinder, die in der Siedlung lebten. Demnach waren es vor siebzehn Jahren vierzig Menschen gewesen, jetzt dagegen knapp über zwanzig. Eine einfache Rechnung. Doch nein, so einfach nun auch wieder nicht. Gräber gab es weit mehr, alles Gräber von Kindern, die hier geboren, doch später ums Leben gekommen waren.
Dicht an seinem Ohr, als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte Luisa: „Die meisten sind in den ersten fünf Jahren gestorben.“
„So ist es“, stimmte der Alte zu, „wir mußten für unsere Erfahrungen teuer bezahlen.“
„Dabei ist es noch ein Wunder, daß wir nicht alle schon im ersten Jahr draufgegangen sind“, sagte Thomas. „Erinnerst du dich?“
„Und ob“, sagte der Alte.
Sie blieben vor den Grabplatten im Zentrum des Friedhofs stehen, die grobschlächtig, schief und unbehauen waren und fast ganz in der Erde steckten. Feste, rötliche Moosranken hatten sich um sie gelegt, machten kleine rundliche Hügel aus ihnen.
Oleg wollte kehrtmachen, noch einen Blick auf die Siedlung werfen, er wußte, die Mutter stand am Zaun und hoffte, daß er es tat. Er trat schon auf die Pforte im Zaun zu, doch da sagte Thomas: „Wir müssen los. In fünf Stunden wird es dunkel, dann müssen wir die Felsen erreicht haben.“
„Oje“, sagte Marjana und tastete mit den Fingern

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