Der Gebirgspass
trauen.“
„Thomas wüßte, was jetzt zu tun wäre“, sagte Marjana.
„Es wäre wirklich zu dumm“, schimpfte Dick, „hier erfrieren zu müssen, so dicht bei dem Koloß.“
Dick rüttelte an der Luke — vergeblich. Dann hämmerte er mit der Faust dagegen, und Oleg erwartete einen tiefen, langanhaltenden Ton, doch nichts dergleichen. Oleg, der gut, sogar ausgezeichnet lesen konnte, entzifferte, wie ein Anfänger die Lippen bewegend, die mit goldenen Buchstaben eingravierte Inschrift auf dem Schiff: „POL“.
„Stimmt“, sagte er, „Pol“.
„Dachtest du vielleicht, wir hätten ein anderes Schiff gefunden?“ sagte Dick und sprang von der Leiter hinunter in den Schnee. „Wir müssen unsern Kopf anstrengen“, fuhr er fort, „so kriegen wir die Luke nicht auf.“
Marjana zitterte. „Seltsam“, sagte sie, „vorhin war es gar nicht kalt, und jetzt ist es so eisig.“
„Und ich hab mächtigen Hunger“, entgegnete Dick. „Dort gibt’s wahrscheinlich jede Menge zu essen. In den Blechbüchsen. Thomas hat gesagt, darin verdirbt nichts.“
Nun kletterte Oleg zur Luke hinauf, holte sich mit der einen Hand gegen das eiskalte Metall des Schiffskörpers stemmend, den Strahlungsmesser hervor und hielt ihn gegen den schmalen Spalt. Der Zeiger schlug eine Winzigkeit aus, erreichte aber bei weitem nicht die rote Markierung. Im Talkessel war es sehr still, Oleg hörte nicht nur die Unterhaltung der beiden unter ihm, sondern sogar Marjanas Atem.
„Schade, daß Thomas es nicht geschafft hat“, sagte das Mädchen. „Du glaubst gar nicht, wie leid mir das tut.“
„Natürlich ist es schade“, stimmte Dick zu. „Aber er hätte es auf keinen Fall geschafft. Und wir mit ihm womöglich auch nicht.“
„So darfst du nicht reden“, sagte Marjana.
„Er ist tot“, erwiderte Dick, „Tote hören nichts.“
„Ich weiß nicht recht“, sagte Marjana, „vielleicht hören sie doch.“ Oleg drückte gegen die Luke, sie rührte sich nicht von der Stelle. Und wenn er sie nun zu sich heranzog? Aber wie?
„Klappt’s nicht?“ fragte Marjana. Die Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, es wurde gleich dunkler und für sie gewohnter.
„Moment“, sagte Oleg, „wieso wollen wir die Luke eigentlich immer nach außen oder innen aufstoßen, wie wir das von unsren Türen zu Hause kennen? Vielleicht wird eine Schiffstür ganz anders geöffnet?“
„Komm runter“, sagte Dick „was soll’s. Ich geh mit einem Stein hoch.“
„Mit einem Stein richtest du gar nichts aus“, erwiderte Oleg. „Wie könnte das bloß funktionieren. Ob sie zur Seite aufgeht?“
Die Tür war ein wenig ins Innere der Schiffswand eingelassen und führte unter die Verkleidung. Ja wirklich, ich müßte sie vielleicht zur Seite schieben, überlegte Oleg. Das ist zwar nicht üblich, aber da das Schiff fliegt, ist es wahrscheinlich sinnvoller so, damit die Tür unterwegs nicht versehentlich aufgeht. Und so rief er Dick zu: „Gib mir mal das Messer!“
Dick warf das abgebrochene Messer hoch und begann, die Hände unter den Achseln, vor Kälte herumzustampfen. Sogar er fror! Trockener Schnee fiel. Sie waren allein auf der weiten Welt, sie starben vor Hunger und Kälte, das Schiff aber wollte sie nicht einlassen.
Oleg führte den Messerstumpf an den Lukenspalt und versuchte den Schnapper wegzudrücken. Der gab plötzlich ein lautes Klicken von sich, und die Tür fuhr leicht, als hätte sie nur darauf gewartet, zur Seite, verschwand in der Wand. Es war also richtig gewesen. Oleg drehte sich nicht um, rief den anderen nichts zu, um ihnen seine Klugheit vor Augen zu führen. Er hatte die Aufgabe gelöst, und das war das Wichtigste. Er mochte das: Aufgaben lösen, selbst wenn sie nicht kompliziert waren. Es genügte, daß die anderen nicht damit fertig wurden. Er steckte das Messer in den Gürtel und holte erneut den Strahlungsmesser hervor.
„Oh“, hörte er Marjana ausrufen, „Oleg hat die Tür aufgekriegt!“
„Das ist gut“, sagte Dick, „dann geh jetzt. Na geh schon, was stehst du hier noch rum?“
Der Strahlungsmesser wies aus, daß keine Gefahr bestand. Es hatte alles seine Richtigkeit.
„Es ist dunkel im Schiff“, sagte Oleg, „gebt mir eine Fackel.“
Selbst bei der großen Kälte in der letzten Nacht hatten sie die Fackeln nicht angetastet, zumal sie wenig Wärme spendeten. Dafür aber brannten sie lange.
„Ist es dort warm?“ fragte Marjana.
„Nein“, erwiderte Oleg. Er schnupperte. Im Schiff herrschte ein fremder, unheilvoller Geruch,
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