Der Gebirgspass
im Winter hier durchgekommen, bei viel Schnee, Finsternis und starken Frösten. Das änderte natürlich alles.
Verzweiflung überkam die drei, denn der Paß war für sie so abstrakt wie vorher der Sternenhimmel, und sie vermochten nicht, ihn sich vorzustellen, weil sie ihn nur aus Erzählungen kannten, doch niemals gesehen hatten.
Oleg bedauerte es, den Sternenhimmel verschlafen zu haben, aber vielleicht würde er in dieser Nacht erneut zu sehen sein. Die Wolken waren dünner geworden, ließen hin und wieder Bläue durchscheinen, und ringsum war es viel heller als unten im Wald.
Als sie nach einigen Stunden völlig erschöpft waren, ordnete Dick eine Rast an und begann Marjanas erfrorene Wangen mit Schnee abzureiben. Und da entdeckte Oleg einen blauen Fleck seitlich im Schnee. Er teilte seine Beobachtung den anderen nicht sofort mit, denn bis dorthin waren noch etwa hundert Schritt zurückzulegen. Dafür aber hatte er nicht die Kraft.
Als Dick jedoch zum Aufbruch rief, zeigte Oleg auf den Fleck, den er entdeckt hatte. Sie begaben sich gemeinsam hin. Sie gingen mit jedem Schritt schneller — das Schwerste war ja, aufzustehn und sich in Bewegung zu setzen, vor allem wenn man wußte, daß es nichts zu essen, nicht mal Feuerholz gab.
Der Fleck entpuppte sich als kurze blaue Jacke aus dünnem, kräftigem Stoff. Sie war halb frei Schnee, und der eine Ärmel, noch immer froststarr, ragte in die Höhe. Dick kratzte den Schnee ringsum weg, um die Jacke gänzlich herauszuziehn, doch Oleg wurde plötzlich von krankhafter Ungeduld ergriffen.
„Nicht nötig“, sagte er heiser, „laß daß. Wir sind bald am Ziel, verstehst du, wir sind auf dem richtigen Weg!“
„Es ist eine stabile Jacke“, erwiderte Dick, „wir können sie gut gebrauchen. Marjaschka ist völlig durchgefroren.“
„Ich brauche sie nicht“, sagte Marjana, „wir wollen weiter.“
„Dann geht, ich hol euch ein“, sagte Dick halsstarrig. „Geht nur.“
Sie setzten ihren Weg fort, und eine Viertelstunde später war Dick, die Jacke in der Hand, bei ihnen. Doch Marjana weigerte sich, das Kleidungsstück überzuziehn, sagte, es sei naß und klamm. Entscheidend freilich war, daß es sich um die Jacke eines Fremden handelte. Wenn aber jemand sie abgelegt oder zurückgelassen hatte, so bedeutete das bestimmt, daß er ums Leben gekommen war so wie damals viele. Es war ja bekannt, daß seinerzeit sechsundsiebzig Menschen vom Paß aufgebrochen, jedoch nur gut dreißig Mann im Wald angekommen waren. Und Marjana hatte Angst, jene zu entdecken, die das Ziel nicht erreicht hatten.
Zum Paß gelangten sie auch an diesem Tag nicht, obwohl Oleg glaubte, er müsse jeden Augenblick auftauchen — nur noch die Gletscherzunge dort umgehen, dann würde er zu sehen sein, jenen Geröllhang bewältigen, dann läge er vor ihnen … Danach allerdings würde der Aufstieg immer steiler, die Luft immer dünner werden.
Sie übernachteten, oder genauer, warteten die Dunkelheit ab, indem sie sich zu einem Häufchen zusammendrängten, sämtliche Decken und das Zelt um sich wickelten. Die Kälte machte es ohnehin fast unmöglich zu schlafen, sie sanken lediglich für Augenblicke ins Vergessen und tauchten wieder daraus empor, um ihre Plätze zu tauschen. Von Marjana, die in der Mitte lag, ging kaum noch Wärme aus — sie war irgendwie körperlos und spitz geworden, zerbrechlich wie Vogelknochen. Im Morgengrauen erhoben sie sich, über ihnen breitete sich blauer Sternenhimmel aus, doch ihnen stand nicht der Sinn danach.
Dann wurde es allmählich hell, und eine kalte, grelle Sonne, wie die drei sie noch nie gesehen hatten, schimmerte durchs Nebelgespinst. Doch auch hierfür hatten sie im Augenblick keinen Sinn. Sie trotteten dahin, umgingen Eisspalten, Geröllhänge und Felsgesimse. Dick schritt starrsinnig vorneweg und wählte den Weg aus, wobei er öfter hinfiel als die anderen, doch er wollte um keinen Preis die Führerrolle aufgeben. So erreichte er auch als erster den Paß, ohne sich darüber im klaren zu sein, denn der Hang, den sie die ganze Zeit über mühsam erklommen hatten, war unmerklich eben geworden, hatte sich in ein Hochplateau verwandelt. Erst da erblickten sie die Zacken des Gebirgskammes vor sich, eine ganze Gletscherkette, glitzernd unter der Sonne. Eine Stunde später öffnete sich plötzlich ein Tal zu ihren Füßen, in dessen Mitte eine runde Scheibe aus dunklem Metall zu sehen war. Sogar von hier, aus einem Kilometer Höhe, wirkte sie gigantisch. Sie lag
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