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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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tatsächlich, es soll funktioniert haben. Zwar nicht durchgängig, aber immerhin einige Male. Auch in Deutschland wurden nach strengen wissenschaftlichen Kriterien und unter öffentlicher Beobachtung ähnliche Experimente veranstaltet. Viele renommierte Zeitungen berichteten darüber. Die meisten sogenannten parapsychologischen Phänomene aber erwiesen sich letztendlich als Humbug, einige ganz wenige allerdings blieben übrig. Sie konnten nie er- oder geklärt werden. Also gab es Vorkommnisse, die mit naturwissenschaftlicher Logik nicht zu fassen waren.
    Und genau an diese erinnerte ich mich nun wieder und versuchte mich so selbst zu begreifen. Das war ein Glück. Denn auf diesem Wege entkam ich dem Irrsinn. Ich baute mir eine Erklärung zusammen, die mir zu einer veränderten Identität verhalf. Vermutlich war dies die unbedingte Voraussetzung dafür, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ansonsten wäre ich wohl in der Psychiatrie gelandet.
     

    Mein neues Leben aber sollte mit meinem alten nicht mehr viel gemein haben.
     

    Als wäre es ein ungeschriebenes und unter allen Umständen einzuhaltendes Gottes-Gesetz für alle »Gedankenleser«, schwieg ich vom ersten Tag an über meine neu gewonnene Fähigkeit. Seltsamerweise erwog ich nicht einmal, mich irgendjemandem mitzuteilen, auch nicht Anna. Ich verschwendete nicht einen Gedanken daran. Später wurde mir klar, dass ich mich genau richtig verhalten hatte. Und ich war sehr froh darüber. Denn natürlich hätte man mich zunächst für verrückt erklärt, und eine Odyssee von Psychiater zu Psychiater wäre die Folge gewesen. Welch grauenhafte Vorstellung. Vermutlich hätte ich dabei meine seelische Gesundheit tatsächlich eingebüßt.
    Was aber vielleicht noch viel wichtiger war, und schon damals ahnte ich es: Kein Mensch würde in der Nähe eines Gedankenlesers leben wollen. Verständlicherweise. Wie schauerlich, nie etwas für sich geheim halten zu können. Ein jeder wäre in Angst vor mir geflohen, hätte ich meine Fähigkeit offen kundgetan.
     

    Also behielt ich das Ungeheuerliche für mich.

7

    Seit jenem Sonntagnachmittag, als ich zum ersten Mal bewusst in die Seele meiner Frau hineingelauscht hatte, waren knapp drei Wochen vergangen. Ich fühlte mich weder gut noch schlecht, sondern eher wie benommen. Der Schock, den die unheimliche Erkenntnis ausgelöst hatte, saß tief. Anna beäugte mich misstrauisch, da ich ihre unmittelbare Nähe, soweit irgend möglich, mied. So etwas hatte es während der vielen Jahre unseres Zusammenseins noch nie gegeben. Ich glaube, sie vermutete nun wirklich einen ernsthaften Schaden meiner Psyche, thematisierte mein seltsames Verhalten jedoch nicht mehr. Nur einige Gedankenfetzen hatte ich hin und wieder von ihr aufgeschnappt, wenn ich doch zu nahe an sie herangekommen war. Trat ich dann aber sofort einen Schritt zurück, verblasste die Stimme innerhalb von Sekundenbruchteilen und war ganz schnell verschwunden.
     

    Der Schock hatte mich menschenscheu gemacht. Und so hielt ich mich viel im Haus auf, in meinem Arbeitszimmer. Nur ab und zu ging ich allein über die Wiesen und Felder hinter unserem Grundstück. Keinem Menschen, außer Anna, war ich seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus nahegekommen, und nur wenige hatte ich während meiner Spaziergänge überhaupt gesehen.
     

    Und nun klingelte es an der Tür. Erst einmal kurz, dann zweimal lang. Ich war allein zu Hause und spürte den Pulsschlag
    an meinen Schläfen. Wer konnte das sein? Es war später Vormittag. Besuch um diese Zeit? Nein, niemals. Zudem bekamen wir fast nie unangemeldeten Besuch.
    Unsere schicke Eingangstür hatte leider keinen Spion, und die beiden Flurfenster waren mattiert. Ich konnte also nicht heimlich nach draußen spähen. Auch von den anderen Fenstern aus war es nicht möglich, direkt auf den Eingangsbereich zu schauen. Es klingelte noch einmal. Und dann machte ich, ohne weiter darüber nachzudenken, die Tür auf.
    »Guten Morgen, Sie sind doch Herr Stahl, oder?«
    »Ja, das bin ich.«
    Es war der Postbote mit einem Einschreiben. Er stand direkt vor mir.»
    »Muss ich irgendwas unterschreiben?«
     

    Blöde Frage.
     

    »Ja bitte, hier unten rechts.«
    Der Briefträger reichte mir einen Kugelschreiber, und ich versuchte zu unterschreiben, aber irgendetwas stimmte mit der Mine nicht.
     

    Unsereins muss arbeiten - und der hängt um diese Zeit in seinem Traumhaus rum. Scheißbonzen. Das Einschreiben ist vom Finanzamt. Hoffentlich kriegt er

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