Der Gedankenleser
ihm vorging. Seine Gedanken drangen in mich ein, und ich nahm sie wahr wie in androgyner Tonlage und aus einer gewissen Distanz gesprochene Worte. Ich hörte sie also nicht mit meinen Ohren, sondern einer inneren Stimme gleich traten sie in mein Bewusstsein. Und stets klang sie gleich, die Stimme, egal ob eine Frau, ein Kind oder ein Mann sich in meiner Nähe befand. Was mich anfangs sehr irritierte. Da sich die Gedanken zum Beispiel eines kleinen Kindes ebenso anhörten wie die eines alten Mannes. War ich eng umgeben von mehreren Menschen, so nahm ich ein Stimmengewirr wahr, als hätte sich die Stimme vervielfacht. Wirklich verstehen aber konnte ich immer nur eine Stimme. Vermutlich war ich dann der Person, von der sie ausging, ein bisschen näher als den anderen, oder aber es steckte eine größere gedankliche Kraft dahinter. Und immer hallten die Worte so nach, als wären sie in einer Kirche oder einem weitläufigen Gewölbe gesprochen worden.
Wenn ein Mensch allerdings nur in einer speziellen Stimmung war, sich also seine Gefühle noch nicht zu Begriffen geformt und in Sprache verwandelt hatten, konnte ich nichts hören, sondern eher sehen. Aber nicht mit meinen körperlichen Augen, sondern mit meinen inneren Augen. Das waren die Farbvisionen, die ich in Annas Nähe mehrmals erlebt hatte. Jede Emotion nahm ich wahr als farbigen Nebel.
Große Freude war blau, Zorn schwarz, Angst grau, Sehnsucht gelb, Gelassenheit und Seelenruhe silbern, sexuelles Begehren braun, Missmut und Traurigkeit grün, Unentschlossenheit orange, Mitgefühl rot, Hoffnung schneeweiß. Alle anderen Gefühlsregungen zeigten sich in Mischfarben, wobei diese nicht immer unbedingt etwas mit der Bedeutung der Grundfarben zu tun haben mussten. Es dauerte lange, bis ich die häufigsten menschlichen Befindlichkeiten in ihrer Farbgestaltung begriffen hatte. Neid und Missgunst zum Beispiel leuchteten türkis-schwarz. Schuldgefühle zeigten sich weiß-schwarz, wie Zebrastreifen. Befand sich eine Person in einem Zwiespalt oder gar in einem Gefühlschaos, wurde es schwierig für mich. Ich musste dann deuten und spekulieren, manchmal raten, um mir über das Innere des Menschen klarzuwerden. Visuelle Vorstellungen konnte ich übrigens nicht erkennen, auch keine bildhaften Erinnerungen. Nur die damit verbundenen Gefühle.
Es vergingen Wochen, bis ich das Unglaubliche tatsächlich zu akzeptieren begann. Obwohl ich mich immer wieder dagegen wehrte - und auch die Hoffnung hegte, das Ganze sei nur eine vorübergehende Erscheinung und das Gehirn würde bald wieder in seine gewohnte Normalität zurückschnappen. Allzu fantastisch erschien mir die Vorstellung, ich könne nun die Gedanken und Gefühle anderer Menschen hören beziehungsweise sehen. Ja, aus Filmen und Büchern kannte ich solcherlei Fantasien, und als Kinder hatten wir uns oft ausgemalt, wie es wohl wäre, in den Kopf der Lehrerin blicken zu können. »Gedankenlesen« aber gehörte unbedingt in den Bereich der Fiktion oder der Illusion. Gab es doch auch eine ganze Menge Varieté- oder Zauberkünstler, die ihr Publikum mit »Ich kann sehen was du denkst«-Nummern tief beeindruckten. Niemand aber glaubte wirklich daran, sondern ein jeder hatte lediglich Respekt vor dem grandiosen Trick, der offensichtlich dahintersteckte.
Mir war nie aus zuverlässiger Quelle zu Ohren gekommen, dass ein Mensch wirklich über eine solche Fähigkeit verfügte.
Aber ich wusste um einige parapsychologische Phänomene, die ich durchaus ernst nahm - und dies wiederum erleichterte es mir ein wenig, meine so plötzlich aufgetretene und mich sehr beängstigende Abnormität schließlich anzunehmen. Als junger Mann war ich von Berichten fasziniert gewesen, nach denen sowjetische Wissenschaftler Experimente mit paranormal begabten Menschen durchgeführt hatten. So erinnerte ich mich an ein als sehr aufwendig beschriebenes Experiment (jeder denkbare Trick war ausgeschlossen), bei dem nachgewiesen wurde, dass Menschen nur durch ihre Gedankenkraft Materie beeinflussen konnten. Sie waren zum Beispiel in der Lage gewesen, Gegenstände ausschließlich durch Konzentration zu bewegen oder gar Gläser zerspringen zu lassen. Auch hatte es damals beeindruckende Versuche mit telepathisch begabten Menschen gegeben. Zwei Probanden saßen Hunderte von Seemeilen voneinander entfernt, ein jeder in einem U-Boot. Man beauftragte Proband I, nacheinander mehrere zuvor absolut geheim gehaltene Nachrichten an Proband II zu »denken«. Und
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