Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
Vom Netzwerk:
eine saftige Steuernachzahlung aufgebrummt ...
     

    Ich schaute von dem Papier auf, blickte dem Mann in die Augen, und meine rechte Hand zitterte.
     

    Was ist denn jetzt? Warum gafft der mich so an?
     

    »Ich glaube, die Mine ist leer«, sagte ich.
    »Oh, entschuldigen Sie bitte. Hier ist ein anderer Stift.« Ich nahm ihn an und unterschrieb.
     

    Ich muss kacken, hoffentlich beeilt der Kerl sich jetzt, gleich geh ich rüber in den »Bieresel«.
     

    Der Postbote händigte mir den Brief aus, faltete den unterschriebenen Zettel zusammen und steckte ihn in seine Umhängetasche. Ich gab den Kugelschreiber zurück.
     

    Bin mal gespannt, ob ich von dem zu Weihnachten ein Trinkgeld kriege.
     

    »Den Garten haben Sie aber prima hinbekommen«, sagte der Postmann, »sieht wirklich sehr gut aus. Jetzt muss ich aber weiter. Ihnen noch einen schönen Tag.« »Vielen Dank, Ihnen auch. Auf Wiedersehen.«
     

    Das Einschreiben war nichts Besonderes gewesen. Dafür umso mehr die Tatsache, die Gedanken eines fremden Menschen bewusst wahrgenommen zu haben. Nach der kurzen Episode an der Tür bewegte ich mich wie in Trance zurück in mein Zimmer.
     

    Der Mann hatte mir eine saftige Steuernachzahlung gewünscht, er war neidisch auf unser Haus und fand mich offenbar mehr als unsympathisch (obwohl er mich nicht kannte) ...
     

    Nach ein paar Stunden hatte ich mich wieder einigermaßen sortiert - und verspürte zum ersten Mal seit Wochen die Lust, mich unter Menschen zu begeben. Und das möglichst bald. Ich wollte mich nicht mehr in unserem Haus verstecken, nicht mehr allein über Felder laufen, nicht mehr nur über meine neue Fähigkeit nachgrübeln.
    Ich war wie elektrisiert. Die Eindrücke während der Begegnung mit dem Postboten hatten mich zwar zunächst verwirrt, letztendlich aber wahnsinnig neugierig gemacht.
    Was verbarg sich hinter den Gesichtern der Menschen?
    Welche Geheimnisse trugen sie in sich?
    Woran dachten sie, wenn sie schwiegen?
     

    Ich zog mich an, legte Anna einen Zettel auf den Küchentisch, dass ich ausgegangen sei und es spät werden könnte. Dann verließ ich das Haus. Erst auf der Straße dachte ich darüber nach, wie sehr mein Verhalten sie befremden würde. Noch nie in all unseren Jahren war einer von uns einfach so weggegangen, ohne dem anderen zu erzählen, warum und wohin. Aber es war mir egal, zu sehr war ich damit beschäftigt, mir zu überlegen, was denn nun mein erstes Ziel sein sollte.
    Ich entschied mich für ein belebtes Café in der Innenstadt, das Café Walldorf. Da Anna mit unserem Auto unterwegs war, blieb mir nichts anderes übrig, als per Bahn in Richtung City zu fahren. Ich kaufte mir ein Ticket, begab mich zum Gleis und wartete.
    Schon nach ein paar Minuten fuhr der Zug ein. Er war ungewöhnlich voll für diese Tageszeit, so dass ich erst nach längerem Suchen einen Sitzplatz fand. Und da saß ich nun, umgeben von fremden, äußerst unterschiedlichen Menschen. Direkt neben mir am Fenster schien ein etwa Zwanzigjähriger eingenickt zu sein. Sein Kopf war an die Scheibe gelehnt. Unmittelbar vor mir saß eine ältere Dame mit pechschwarz gefärbtem Haar, links neben ihr ein Mann, ich schätzte ihn auf Mitte vierzig, der eine altmodische Hornbrille trug, und hinter mir quasselten zwei Schulkinder.
    Ich hatte mich kaum hingesetzt, da waren meine inneren Ohren auch schon einem Gewirr von Sätzen und Wörtern ausgesetzt. Die Gedanken aller mich umgebenden Personen schienen mein Gehirn zu erreichen. Ausgenommen die der Kinder, da sie ununterbrochen quatschten. Plötzlich aber trat die Stimme in den Vordergrund.
     

    Ich brauch unbedingt drei Gramm. Aber ich krieg das Geld nicht zusammen. Ich könnte irgendwas vertickern. Koks ist das Geilste. Ich muss Lisa rumkriegen, es sich auch reinzuziehen. Und dann fick ich sie die ganze Nacht. Die abgefahrene Schlampe ...
     

    Franz wird also sterben. Alle Behandlungen waren umsonst. Alle. So ein Unglück. Gut, dass der Arzt es zuerst nur mir gesagt hat. Das war sehr rücksichtsvoll von ihm. Aber jetzt muss ich es Franz sagen. Oder soll ich es ihm verschweigen? Ich hab Angst. Was mach ich bloß ohne ihn? Fünfzig Jahre liegen hinter uns. Was für ein schmucker Kerl er damals war. Und wir hatten ein ganzes Leben vor uns. Wie schnell die Zeit vergangen ist. Ja, es war nicht immer leicht, aber im Grunde haben wir uns doch gut verstanden. Wie soll ich ihm sagen, dass er sterben muss? Wie sagt man das einem Menschen? Ich weiß es nicht. Ich hab so

Weitere Kostenlose Bücher