Der Gedankenleser
große Angst. Jetzt gleich, wenn ich nach Hause komm, werd ich ihm noch nichts sagen. Aber er wird fragen. Stängelchen, werd ich dann antworten, die haben nichts Neues rausbekommen, du sollst in ein paar Wochen nochmal in die Röhre, und bis dahin machen wir es uns so richtig schön ...
Dieser Mistkerl, dieser Hund, er hat meinen Urlaubsantrag nicht unterschrieben. Am liebsten würde ich ihm die Fresse polieren. Bin jetzt schon so lange in der Firma, hab so viele Aufträge reingeholt wie keiner, und nicht ein einziges Mal hat das Schwein mich gelobt. Wenn er krepieren würde, mir wär’s egal. Und immer diese Demütigungen vor den anderen Kollegen. Hodenkrebs wünsche ich ihm an den Hals ...
Der HSV war schwach gestern. Wenn ich wählen müsste zwischen einer geilen Nacht mit einer Maus und einem Männer-Abend mit ein paar Spielern, ich würde mich für die Jungs entscheiden, yeah! Cool, was die mir alles erzählen könnten. Zehn Millionen im Jackpot. Wenn ich den knacke, bin ich der King. Eine Woche Koks für alle und Weiber ohne Ende. Ich muss mir noch die Konzertkarten für nächste Woche besorgen. Boah, ein Hummer, geiles Teil ...
Ich drehte den Kopf hin zu meinem Sitznachbarn, der jetzt aus dem Fenster starrte, und in letzter Sekunde konnte ich einen riesigen amerikanischen Geländewagen, einen hellgelben Hummer, sehen.
»Toller Schlitten«, sagte ich zu dem jungen Mann.
Was labert der mich an?
»Ja, nicht schlecht.«
»Wie fandest du die Farbe?«
Was soll das? Hab keinen Bock auf Gequassel.
»Okay.« »Ich finde Silber oder Tiefschwarz besser.«
Mann, Alter, biste schwul oder was?
Der junge Mann schloss wieder die Augen und beendete so unseren kleinen Dialog. Jetzt bemerkte ich, dass die Kinder hinter mir schwiegen.
Ich muss noch Klavier üben. Ob Papa und Mama sich heute wieder streiten? Dann möchte ich immer am liebsten tot sein. Wäre doch alles wieder gut ...
Das Training war langweilig heute. Was gibt's wohl gleich zu essen? Heut Abend gucke ich wieder heimlich Fernsehen. Hoffentlich kriegt Tim keine bessere Note in der Mathearbeit. Der Angeber. Die Lehrer sind immer viel netter zu ihm als zu mir. Ob ich ihm mal was klaue? ...
Der Wagenlautsprecher plärrte: »Nächste Haltestelle - Florentinertor.« Ich musste aussteigen. Worüber ich froh war, denn das Belauschen der fremden Gedanken empfand ich zu jenem Zeitpunkt noch als anstrengend. Trotz aller Faszination. Später, als ich mich mehr und mehr an meine Fähigkeit gewöhnt hatte, erschien es mir weniger kräftezehrend, in die Köpfe anderer Menschen zu horchen.
Ich stieg aus - und konnte das alles noch immer nicht richtig fassen.
Alle Lügen würden ab jetzt vor mir zerfallen.
Jeden Menschen könnte ich nun so sehen, wie er wirklich ist. i
Keine Maske, und wäre sie noch so schillernd, würde mich beeindrucken können.
Ich zündete mir eine Zigarette an, was ich sonst auf offener Straße nie tat, und rauchte im Gehen. Weit war es nicht mehr bis zu meinem Ziel, dem Café Walldorf. Ich mochte diesen Ort sehr. So oft war ich in den letzten Jahren dort gewesen, immer ausgerüstet mit Zeitungen oder Illustrierten, und hatte sogar schon so etwas wie einen Stammplatz. Der wurde zwar nicht eigens für mich freigehalten, aber soweit irgend möglich, saß ich immer dort. Ich konnte den Raum von dieser Position aus gut überblicken und hatte keine unmittelbaren Nachbarn, da sich rechts und links neben dem kleinen Tisch zwei Säulen befanden.
Das Walldorf war bestimmt schon hundert Jahre alt. Und so wirkte auch der gesamte Innenraum. Alles erinnerte an ein Wiener Kaffeehaus. Schnörkel, roter Samt, viel Gold, Plüsch, Kronleuchter, in der Ecke ein alter Flügel und an den Wänden Marmorverkleidungen. Das Publikum war gemischt. Viele ältere Damen, aber auch junge Leute, Studenten, Künstler und einige Touristen. Leer war das Lokal eigentlich nie. Immer gab es etwas zu beobachten, stets geschah irgendetwas. Dabei stand meistens der alte Flügel im Vordergrund. Er schien die Leute magisch anzuziehen. Immer wieder kam es vor, dass sich Gäste einfach an das Instrument setzten und aufspielten. Die Geschäftsführung tolerierte es, sofern alles in einem zeitlichen Rahmen von ungefähr fünf bis zehn Minuten blieb und der Pianist nicht die Ohren der anderen Gäste beleidigte.
Ich trat ein.
Eine bunte Geräuschkulisse tat sich vor mir auf. Durcheinandersprechende Menschen,
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