Der gefrorene Rabbi
Knacken seiner Gelenke wie ein Echo auf das Schließen der Blocktore war. In letzter Zeit torkelte er genauso wie die Giftler und wünschte sich, dass auch sein Verstand so benebelt wäre wie ihrer, weil man dieses Elend nur in völlig abgestumpftem Zustand ertragen konnte.
Inzwischen wetteiferte das Tosen des Sturms mit dem Lärm der ausgelassenen Insassen, bis das Firmament von einem kanonenartigen Donnerschlag erschüttert wurde und plötzlich die Lichter erloschen. In der momentanen Stille wartete Cholly auf der pechfinsteren Treppe darauf, dass die Generatoren ansprangen. In der ganzen Anstalt würde Chaos ausbrechen - schon trommelten die Knackis mit Blechdosen an die Gitter -, wenn der Strom nicht wieder einsetzte. Doch es blieb dunkel, und die geringe Wärme im Haus hatte sich bereits verflüchtigt, als Cholly den Rest des Wegs zum dritten Stock hinauftappte. Über der gesamten Galerie lag ein bernsteinfarbener Schein.
In allen Zellen dieser Zeile waren Kerzen angezündet worden. Die Gefangenen darin, allesamt Ewige, waren mit ausgesprochen ungewöhnlichen Dingen beschäftigt. In der Hütte vor Cholly saß ein farbiger Albino mit tätowierten Zebrastreifen auf dem haarlosen Schädel in seiner Koje und zog Saiten auf ein Instrument, das offenbar aus einer halben Riesenavocado gebaut worden war. Neben ihm hockte ein Indianer, der statt dem Federschmuck ein Bandana mit einer Sammlung herausstehender Permanent-Marker trug, mit der Hose um die Knöchel auf dem Bello und bemalte die Seitenränder eines großen Buchs. Eine Tür weiter hängte ein schlaksiger Kerl mit Haut wie gekochtes Hafermehl - in dem Cholly einen notorischen Pädo erkannte - rosa Bastelpapier zwischen geschwungene Kartonstreben und verwandelte so die Zelle in ein Diorama, das den gerippten Bauch eines Monsters darstellte. Ein Knacki mit einer kegelförmigen Mütze auf dem Kopf, auf der Sterne und Halbmonde abgebildet waren, goss perlmuttfarbene Schmiere in eine spiralförmige Röhre, wie sie zur Zwangsernährung von hungerstreikenden Häftlingen benutzt wurde. Die Röhre war an einer Spritze befestigt, in der die Flüssigkeit zu einem Tropfen aus Gold gerann. Ein bärtiger Greis mit Scheitelkappe klopfte auf einem Eisenleisten Schuhleder; ein breitnasiger Bandenführer legte gerade letzte Hand an ein Paar Flügel, die er aus einem Eisblock geschnitzt hatte. Das Eis hatte er anscheinend selbst mit einem aus zusammengeschnorrten Teilchen gebauten Apparat hergestellt.
Natürlich konnte das, was sie da machten, nicht lange Bestand haben; bald würden die Schlägertrupps in ihre Zellen stürmen und alles zerstören, was sie nicht beschlagnahmten. Doch diese Aussicht änderte nichts daran, dass alle völlig in ihre Tätigkeit versunken waren. Mindestens so faszinierend wie ihre Beschäftigung war die Stille (bis auf den Wind), die den Tumult auf den anderen Stockwerken zu neutralisieren schien und in ihrer Vollkommenheit fast wie eine Oase wirkte.
So fremd sie war, die Atmosphäre im dritten Stock kam Cholly auch irgendwie bekannt vor, vielleicht wie etwas aus einem früheren Leben. Dann schlug er sich die Hand an die Stirn und fuhr herum zu der Zelle des Alten. Mit einer schmutzigen Schürze über der Anstaltskleidung arbeitete er angestrengt an seiner Schusterbank, und der Geruch nach Leder und Farbe verdrängte den üblichen Urin- und Schweißsockengestank der Galerien. Der Alte wurde auf seinen Beobachter aufmerksam und hob langsam den rauchgrauen Kopf. Dann rief er mit fast zahnlosem Grinsen: »Cholly Sidepocket, majn schwarzer!« Bei jeder Silbe drang ein Dampfhauch aus seinem Mund.
Cholly antwortete bedauernd: »Ich gehör nicht mehr zu Ihnen.«
Der Rabbi stand auf und trat mit beschwingtem Schritt ans Gitter; die Bewegung im Knast hatte ihm sichtlich gutgetan. Er hielt den körnigen Schaft des Stiefels, an dem er gearbeitet hatte, an der Zunge. Dann deutete er auf die schlaffe Brandsohle und krächzte: »Is doß die Erde.« Mit dem gekrümmten kleinen Finger stupste er den Absatz an. »Und is doß ha-schamajim, die kommende Welt.« Mit seinem Hammer klopfte er auf die Unterseite der Brandsohle, von der die Nagelreihe hing wie ein gähnender Schlund, und drückte sie ein wenig schlampig auf den unförmigen Schaft, sodass der Kleber wie Mayonnaise zwischen Brotscheiben heraustropfte.
»A schidech!«, verkündete er voller Stolz. »Ein Brautpaar!«
Cholly spürte, wie sein breiter Brustkasten einsank. »Sie sin’ noch immer so verrückt
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