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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Graf Dracula. Und die ganze Zeit konnte er nichts Genaues über den Rabbi erfahren. Er hörte nur das Gerücht, dass man ihn wegen Mord oder einem ähnlichen Schwachsinn angeklagt hatte. Auf jeden Fall saß er, Cholly, wieder hinter schwedischen Gardinen, und unter seinem einst so undurchdringlichen dicken Fell schwelte der Zorn. Im Knast war die Fähigkeit, anderen Angst einzuflößen, eine Trumpfkarte, aber um sie einzuflößen, musste man sie auch spüren. Doch Cholly spürte jetzt zu viel davon. Sie streute ihm Sand ins Getriebe, die Angst; sie erschütterte seine Selbstbeherrschung, und obwohl er noch nie mit dem Gedanken gespielt hatte, keimte in ihm die Absicht zum Abflug.
    Nachdem er die B-Zelle hinter sich hatte und wieder unters gemeine Volk zurückgekehrt war, wurde Cholly zum vorbildlichen Häftling. Im Gleichschritt absolvierte er die Gefängnisroutine und schaffte die Gratwanderung zwischen fiesen Bullen und großspurigen Rambos, die sich einen Ruf erwerben wollten. Er hielt sich zurück, bot den Wachteln keinen Vorwand, ihm etwas anzuhängen, und glotzte sie auch nicht an, wenn sie ihn oder die Zelle filzten. Durch Verzicht auf den Besuch des Anstaltsladens hortete er ein kleines Vermögen in Gutscheinen. Damit konnte er die Schließer schmieren, die dafür bei den Läufern Drogen und andere Schmuggelware eintauschten. So sammelte er Gefälligkeiten an, die er einfordern konnte, um in Arbeitsabteilungen versetzt zu werden, die sonst erst nach Jahren in Reichweite rückten. Trotzdem verging eine Saison, ehe es so weit war. Cholly kam in eine Betonhalle mit riesigen Ventilatoren, die heißen Elefantenatem von sich gaben. Dort tauchte er acht Stunden am Tag mit einer Zange Gummidichtungsringe in einen Tiegel mit kochendem Wasser. Mit der Zeit stieg er vom Vulkanisierer zum Werkstattmechaniker auf, und immer hielt er auf dem Weg von Gebäude zu Gebäude Ausschau nach einer Lücke, die groß genug war, damit ein kräftiger Kerl wie er durchpasste. Aber Brushy Mountain zeigte sich fugenlos; seine steineren Zellenblöcke waren hermetisch abgeriegelt. Überall war Hardware im Dienst der Haft: fräsengroße Bremsen an einer Vielzahl von Schlössern, Hebel mit Messinggriffen, die wie Orgelregister aus der Armatur ragten. Sicher, es gab Fenster, seit Menschengedenken ungeputzt, durch die nichts zu erkennen war als die nebligen Umrisse von Stacheldraht und achteckigen Türmen. Und dahinter?
    Irgendwann im folgenden Herbst wurde Cholly nach heftigem Kungeln zum Hausarbeiter befördert. Dabei war er für Dinge zuständig wie das Wischen und Fegen der müllübersäten Gänge, das Leeren der Aschenbecher in den Aufenthaltsräumen und das Karren von schmutzigem Bettzeug durch endlose Röhren zur Wäscherei. Diese Aufgaben mochten zwar unangenehm sein, aber die Hausarbeiter hatten praktisch überall in der Anstalt freien Zutritt und bekamen oft sogar Schlüssel, um bestimmte Abteilungen zu sichern. Doch diese neue Freiheit munterte Cholly nicht auf, im Gegenteil, er fühlte sich auf Schritt und Tritt überrollt von Ereignissen, die seinen Willen lähmten. Wenn er mit dem Mopp und den von der Hüfte baumelnden Seifenkugeln durch die Korridore des Gefängnisses schlurfte, musste er fast täglich die Hinterlassenschaften routinemäßiger Gemeinheiten entfernen. Er schrubbte die »ausgenommenen« Zellen in Trakt sechs, eine Art Irrenhaus, wo die verkommensten Häftlinge untergebracht waren, die mit fröhlicher Unbeschwertheit ihre nächtlichen Ausscheidungen durch die Gegend warfen - aber nur, wenn sie sich nicht aus Angst vor Vergewaltigung das Arschloch zugenäht hatten. Einmal sah Cholly dort, wie ein Neuer von seinem Zellengenossen schikaniert wurde, der ihn in die Toilette gestellt hatte und seine Weichteile mit einem stromführenden Draht bearbeitete. Als er den Vorfall beim diensttuenden Schließer meldete, warf dieser nur einen kurzen Blick in die Zelle und meinte: »Is bestimmt gut gegen Rheuma.«
    Eines Nachmittags im Winter zog ein Unwetter herauf, ein heftiger Sturm mit schwerem Schneefall. Cholly und ein paar andere Hausarbeiter fegten gerade Abfall aus den Zellen auf Block C, da bohrte ihm Boss Wilcox den Schlagstock in den Rücken und schickte ihn allein in den dritten Stock, mit der Aufforderung: »Musst nur mal kurz durchfegen.« Als er mit dem Mopp und dem Eimer, die ihn immer begleiteten, die gusseiserne Wendeltreppe hinaufstapfte, dachte Cholly, der in letzter Zeit sehr müde geworden war, dass das

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