Der Gefundene Junge
noch feucht von SchweiÃ. Er zog sie aus und schlüpfte in das einfache Nachthemd, das Umber ihm dagelassen hatte. Als er den Kopf hindurchsteckte und das Hemd über seinen Körper zog, fiel sein Blick auf eine merkwürdige Erscheinung in der Luft.
Zuerst dachte er, es sei ein Spinnwebfaden, der durch sein Zimmer schwebte. Er befand sich direkt vor ihm und verlief von seiner Brust zur Tür. Hap beugte sich vor und pustete dagegen, doch das Fädchen bewegte sich nicht von der Stelle. Er runzelte die Stirn und streckte einen Finger danach aus. »Wie?«, sagte er, als sein Finger durch das Fädchen hindurchfasste, ohne dass es sich bewegte. Als er genauer hinsah, konnte er bunte Lichtimpulse erkennen, die darin hin und her liefen. Er hielt seine Handfläche in den feinen Lichtstrahl, und plötzlich war ihm so, als hörte er ganz leise Geräusche: ein Flüstern oder Musik in der Ferne.
Hap zitterten die Hände. Er stieà ein leises, verdutztes Lachen aus und fragte sich, was es mit dieser Erscheinung auf sich hatte. Wurde sie von etwas anderem verursacht oder war sie seinetwegen da? Endete sie an seiner Brust oder begann sie dort? Ihm schwirrte der Kopf, als ihm die Worte aus dem Brief wieder einfielen ⦠wirst Du gewisse Fähigkeiten an ihm entdecken .
Er folgte dem Faden und wollte eigentlich daneben hergehen, doch da geschah erneut etwas Merkwürdiges: Der Faden bewegte sich seitlich durch den Raum, bis er wieder genau auf Haps Brust zeigte. Hap trat einen Schritt zur Seite, und der Faden bewegte sich mit ihm.
Kopfschüttelnd folgte er dem Faden mit den Augen bis zu dem Punkt auf der Tür, an dem er endete. Aber endet er dort wirklich? , fragte er sich. Er drehte den Türknauf und zog die Tür auf. Sie quietschte ganz leise in den Angeln. Der Faden trat auf der anderen Seite wieder aus und schwebte, soweit Hap das sagen konnte, bis zum anderen Ende des Flurs. Als Hap sich umdrehte, um die Tür zu schlieÃen, fiel ihm noch etwas anderes auf: Wenn er dem Faden nachging, verschwand er hinter ihm.
Ich muss nachsehen, wo er hinführt , dachte er. Doch so neugierig er auch war, wollte er ungern dabei erwischt werden, wie er Lady Trudens Regeln missachtete. Er musste an ihrer Tür vorbei. Aber es ist dunkel, also kann sie mich nicht sehen. Hoffe ich.
Hap zog die Tür ins Schloss und tapste barfuà den Flur entlang. Dabei blieb er auf dem schmalen Teppich, um seine Schritte zu dämpfen.
Die Tür zu Lady Trudens Zimmer stand einen Spalt offen. Hap spähte hindurch, um sich zu vergewissern, dass sie ihm nicht auflauerte, und stellte erleichtert fest, dass sie mit der Seite zu ihm auf der Bettkante saÃ. Sie hielt ein Bild in der Hand, das nicht viel gröÃer war als ihre Handfläche. Es handelte sich umein erstaunlich genaues Porträt von Umber. Ob Sophie das gemalt hat? , fragte sich Hap. Lady Truden strich mit den Fingerrücken ihrer freien Hand über das gemalte Gesicht. Dann hoben sich ihre Schultern, und Hap hörte einen tiefen Seufzer.
Hap zog den Kopf zwischen die Schultern. Er wusste nicht, was schlimmer war: seine Beschämung darüber, sie in einem so privaten Moment zu beobachten, oder die Angst davor, beim Spionieren ertappt zu werden. Er hielt den Atem an, um sich nur ja nicht durch das kleinste Geräusch zu verraten, und schlich an ihrer Tür vorbei.
Der Faden führte in den Durchgang zum Treppenhaus. Hap verlieà den Teppich und ging vorsichtig die Treppen hinunter. Die Steine fühlten sich unter seinen FüÃen kalt an. Während seine Augen die Dunkelheit durchdrangen, fragte er sich, wie es wohl für die anderen sein mochte, immer eine Kerze oder Laterne zu brauchen, um den Weg zu finden und nicht gegen die Wand zu laufen oder die Treppe hinunterzufallen.
Die Stufen beschrieben eine leichte Linkskurve und der Faden folgte ihnen. Er führt mich , dachte Hap. Bei dem Gedanken blieb er abrupt stehen und biss sich auf die Lippe. Er fragte sich, ob das eine Art Falle sein konnte â ob der Faden ihn vielleicht nach drauÃen lockte, wo Occo sich auf ihn stürzen würde. Doch als er den Faden noch einmal berührte und wieder diese fernen Geräusche erklangen, verwarf er den Gedanken. Nein , sagte ihm sein Instinkt. Das hier hat nichts mit dem Widerling zu tun. Aber wo führt der Faden mich hin?
Hap näherte sich langsam dem Ende der Treppe und spähte um die letzte Windung. In
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