Der Gefundene Junge
»Natürlich.«
»Ich glaube, es wird das Beste sein, wenn du als Fremder und Gast in deinem Zimmer bleibst, während wir schlafen wie normale Leute. Aerie ist kein Spielplatz, junger Mann. Wenn Lord Umber dir nicht ausdrücklich freie Hand gelassen hat, solltest du hierbleiben. Haben wir uns verstanden?«
Hap verstand immerhin eines: Lady Truden mochte ihn nicht besonders oder legte zumindest keinen Wert auf seine Anwesenheit. Er schaute zum Fenster. »Ja, Lady Truden.«
Ohne ein weiteres Wort verschwand sie und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Wenn sie sie hätte abschlieÃen und verriegeln können, hätte sie es wohl auch getan, dachte Hap. Er hörte, wie ihre Schritte sich rasch entfernten und am Ende des Flurs eine Tür geschlossen wurde.
Er atmete tief durch und fing an zu lesen.
16
Hap saà mit dem Buch auf dem Schoà am Fenster und sah zu den Docks hinunter. Es war fast eine Stunde her, dass die Uhr am Schlossturm zwölf geschlagen hatte. Seine scharfen Augen erspähten einen einzelnen Mann, der die hölzernen Planken auf und ab patrouillierte, und von dieser schwindelnden Höhe aus konnte er an Deck einiger Schiffe weitere Soldaten in ihren Verstecken sehen.
Er war sich nicht sicher, was er sich wünschen sollte. Falls Occo tatsächlich in die Falle ging, hätte er Angst, dass bei dem Versuch, ihn zu fangen, jemand starb. Vielleicht war es besser, wenn er gar nicht erst aufkreuzte. Dann konnte Hap versuchen sich einzureden, dass sein Verfolger für alle Zeit verschwunden war.
Als mehr und mehr Zeit verstrich und es immer unwahrscheinlicher wurde, dass noch etwas passierte, begannen Lady Trudens Worte an ihm zu nagen. Er fragte sich, was er getan hatte, um solche Verachtung zu verdienen. Sicher, er war zu Umbers Fenster hochgesprungen. Aber Umber hatte Verständnis dafür gezeigt â warum nicht auch sie? AuÃerdem war das hier doch Umbers Haus. Und Umber vermittelte nie den Eindruck, dass Hap wie ein Gefangener gehalten werden sollte, während die anderen schliefen. Das hatte Lady Truden sich ganz allein ausgedacht.
Hap trommelte mit den Fingern auf das ledergebundene Buch und blies ganz langsam die Luft aus. »Die Bücher von Umber«, sagte er laut. Er fragte sich, ob Umber vielleicht in diesem Moment an einem neuen Band über seine jüngste Entdeckung schrieb: einen grünäugigen Jungen. Hap sah genau vor sich, was dort stehen würde: Der Junge schläft nie ⦠Er kann im Dunkeln sehen ⦠Er kann ungewöhnlich hoch springen â¦
Er schnaubte, schlug das Buch gegen seinen Oberschenkel und lieà den Blick durchs Zimmer schweifen. Dabei wurden ihm dessen winzige AusmaÃe und die Gitter vor den Fenstern zum ersten Mal richtig bewusst. Plötzlich erschien es ihm wie ein Käfig, und er kam sich vor wie ein Versuchskaninchen, das hier für weitere Tests festgehalten wurde. Bei dem Gedanken schien seine Haut am ganzen Körper zu zucken.
Ich muss mal für eine Weile hier raus , dachte er. An den Docks würde sicherlich nichts mehr passieren. AuÃerdem hatte er Lust, sich die Kunstgegenstände im unteren Stockwerk näher anzusehen. Das mussten die anderen ja nicht wissen; er würde sich alles im Dunkeln anschauen. Doch als er versuchte aufzustehen, merkte er, dass irgendetwas nicht stimmte.
Sein gesamter Körper wurde plötzlich von einer tödlichen Kälte durchflutet, und seine Beine und Arme waren steif wie rostiges Metall. Er krümmte die Finger, doch selbst sie lieÃen sich nur schwer bewegen. Was ist los mit mir? Er versuchte zu schreien, doch auch seine Kiefer waren erstarrt, und es drang nur ein Wimmern heraus. Ein schrecklicher Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Das ist der Tod . Oder vielleicht ein Vorgeschmack darauf.
Das Kältegefühl hielt nur ein oder zwei Minuten an undwurde dann von einer fiebrigen Hitze abgelöst. Sie begann in den Augen, füllte seinen Schädel mit heiÃen Kohlen und leitete flüssiges Blei in seine Knochen. SchweiÃperlen drangen aus jeder Pore seines Körpers. Einen Moment lang flirrte die Luft um ihn herum.
Aber schlieÃlich konnte er seine Glieder wieder bewegen â die Starre war daraus entwichen. Um ganz sicherzugehen, beugte er jedes einzelne Gelenk. »Was war das?«, fragte er sich laut und merkte, dass er auch wieder sprechen konnte.
Das Fieber war verschwunden, nur seine Kleider waren
Weitere Kostenlose Bücher