Der Gefundene Junge
Geräusch.
»Ich kann das nicht tun, ohne Lord Umber zu fragen«, sagte Hap. »Das wäre nicht richtig. Ich kann nicht.«
Turiana legte den Kopf schief wie ein Raubtier. »Natürlich kannst du. Bist du denn gar nicht neugierig, was passiert, wenn du das für mich tust? Das liegt doch eigentlich in deiner Natur.«
»Meiner Natur? Wie meinen Sie das?«
»Bring mir, worum ich dich gebeten habe, dann sage ich es dir.«
»Nein, das werde ich nicht tun«, sagte Hap. »Tut mir leid.«
»Schreckliches Kind! Dann wirst du auch nicht hören, was du wissen musst. Nur die Worte, von denen du dir wünschen wirst, sie nie gehört zu haben!« Sie riss mit einer Hand das Spinngewebe herunter, das ihr Gesicht verborgen hatte. Hap sah transparente, von Adern durchzogene Haut, die sich straff über einen Totenschädel spannte. Die Augen waren in ihren tiefen Höhlen verschrumpelt wie Rosinen. Natterngleich fauchte sie drei furchtbare Worte:
»Du bist tot!«
21
Hap konnte sich kaum noch daran erinnern, wie er den Raum, in dem die Hexe eingesperrt war, verlassen hatte. Er war in besinnungsloser Panik geflohen und hatte dabei den Pelzumhang von sich geschleudert.
Auf der anderen Seite der Tür, das Gesicht an Umbers Brust gedrückt, kam er allmählich wieder zu sich. Irgendetwas tat weh, und ihm wurde bewusst, dass er auf die Fingerknöchel seiner Hand biss, die er sich in den Mund gesteckt hatte.
»Komm mit«, sagte Umber, legte eine Hand um Haps Schultern und führte ihn durch die Tunnel nach Aerie zurück, in den wasserbetriebenen Lift und in Haps Zimmer, wo er auf seinem Stuhl zusammensank.
Als Hap seine Sprache wiedergefunden hatte, erzählte er Umber, was passiert war.
»Turiana ist grausam, Hap«, sagte Umber. »Du wolltest nicht tun, worum sie dich gebeten hat, also hat sie beschlossen, dir Angst einzujagen. Sieh mal, du bist ganz offensichtlich nicht tot. Du atmest. Du isst. Dein Herz schlägt. Und du blutest auch, wenn ich mich recht erinnere.«
Hap lehnte sich an die Wand und atmete tief durch. Ihm fiel dieses schreckliche Kältegefühl wieder ein, das über ihn gekommen war, bevor er diesen seltsamen Lichtfaden gesehen hatte. Dahabe ich mir gesagt, dass es sich anfühlt wie der Tod , dachte er. Er versuchte, diesen Gedanken wieder aus seinem Kopf zu verbannen. »Vielleicht meint sie, dass ich sterben werde«, sagte er, obwohl diese Variante auch nicht gerade angenehm war.
»Tja, das müssen wir alle, wenn man es recht bedenkt«, erwiderte Umber. Er versuchte über seinen eigenen Scherz zu lächeln, doch es gelang ihm nicht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er war aschfahl geworden. Seine Gesichtszüge wirkten erschlafft, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Das Grinsen, das sonst so häufig seinen Mund umspielte, war nirgends in Sicht. Umber drückte die Finger gegen seine Schläfen und massierte sie mit kreisenden Bewegungen.
Dieser Anblick riss Hap aus seinem eigenen Kummer. »Lord Umber â ist alles in Ordnung?«
Umber ignorierte die Frage. »Und es ist gut, dass du nicht getan hast, worum sie dich gebeten hat, Hap. Denn diese angeblich wertlosen Schmuckstücke, die sie haben wollte, sind der Quell ihrer Macht. Sie hätte sich innerhalb von Minuten befreit, und das Ganze hätte in einer Katastrophe geendet.« Er starrte mit glasigem Blick zu Boden.
»Lord Umber?«, sagte Hap. Umber grummelte.
»Ich ⦠würde Sie gern etwas fragen ⦠wenn ich darf. Es geht um etwas, das Sie zu Smudge gesagt haben«, sagte Hap. »Als Sie gemerkt haben, dass ich so viele Sprachen kann ⦠da haben Sie etwas über diese Welt gesagt ⦠und über Ihre Welt. Was haben Sie damit gemeint?«
Umber antwortete nicht sofort. Zuerst dachte Hap, er hätte ihn nicht gehört. Dann hob Umber den Kopf und sah Hapwütend an. Hap wich zurück, erstaunt über Umbers zornigen Blick.
»Wie oft soll ich es dir denn noch sagen? Ich kann dir noch nicht alles erzählen! Kann nicht mal eine Stunde vergehen, ohne dass du mir eine deiner verdammten Fragen stellst?« Umber kniff sich in den Nasenrücken. Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Es tut mir leid ⦠aber ⦠lass mich einfach eine Weile in Ruhe, ja?« Damit verlieà er Haps Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
22
Nach einigen Stunden allein in seinem Zimmer
Weitere Kostenlose Bücher