Der geheime Basar
zwanzig Studenten bedeuteten sechzig Minuten, die sechshunderttausend ungeduldige Fernsehkonsumenten versäumten, die wie Gewichte auf unseren Schultern saßen und uns in ihrer Umarmung erstickten. Würden wir nur eine Sekunde aufhören, an sie zu denken, wären sie weg. Und wen sollten wir dann noch beeinflussen? Doch ich fuhr allein mit dem Zug und aß feuchte belegte Brote. Mit einem kleinen Rucksack und einem Heft. Meine Schultern lockerten sich, und plötzlich fühlte ich mich so wohl, dass ich beschloss zu kündigen. Als ich in Leeds eintraf, im Galeriegeschoss der alten Bibliothek, tuschelten zwei Studenten aus Teheran miteinander, die zu dem Vortrag kommen wollten. Die Welt setzt Zeichen, dachte ich, wenn ein Mensch eine Geschichte erzählen möchte.
Es vergingen drei Monate, und ich war völlig frei. Ich schrieb im Hof meines Hauses, umgeben von Obstbäumen und Sommerwinden und dem Kater David. Ich schloss immer die Augen, öffnete sie wieder und entdeckte, dass ich dort war, an einem farbenfrohen Ort, nicht weit vom Argentina-Platz. Ich war Kami. Ich musste es sein. Im Dschamschidieh-Park, bei den Untergrundpartys, im Prügelstrafenkeller des Gerichtsgebäudes in der Bukareststraße, die ihren Namen längst zu Schahid-Ahmad-Qassir gewandelt hat. Eine verwirrende und fordernde Freiheit lastete auf unreifen Schultern, verschlug mich in die dunkelsten Ecken. Ich geriet in den Sog eines Volkes, das romantisch und totalitär ist, von Narben übersät und süchtig nach Drama. Jeder dort sitzt auf einem Stuhl, der nicht für ihn passt, genau wie hier. Und die säkulare Mehrheit, die an der Zuneigung zu Tradition und Einfachheit leidet, hat sich zum größten Teil schlicht an die Zwänge des Lebens gewöhnt – und so passiert es, dass neunjährige Mädchen in die Todeszellen geschickt und Frauen wegen Ehebruch gesteinigt werden. Ich schlief immer in Tel Aviv ein und erwachte am Platz der Freiheit, war vom Verbotenen angezogen wie ein stumpfsinniger Falter, und ich hatte Angst, der zu sein, der ich bin, wie ich geboren wurde, und dann betete ich, mich mit einem roten Peykan zu einem Zelt in der Wüste davonzumachen – und dass die Dinge einfach wären.
Mir scheint, naiv betrachtet, wenn jeder Israeli die Freundschaft eines Iraners suchen würde, der keinen Grund hat, sein Freund zu sein, um ein paar Fragen zu stellen und sich selbst dort vorzustellen, wäre unser Leben ein bisschen weniger gefährlich.
Es gibt tatsächlich Rennfahrerinnen im Iran. Laleh Seddigh ist die Königin, eine einunddreißigjährige Doktorandin, Dozentin an der Universität und aktive Frauenrechtlerin, die viel Freiwilligenarbeit leistet. Auf Bildern sieht sie aus wie ein zartes Mädchen mit einem blauen Schal, «die kleine Schumacher», so nennt man sie. Am Ende eines hartnäckigen Kampfes brach sie das dreißigjährige Verbot und wurde in einem Rennen mit Männern zugelassen, das sie gewann und zur Legende machte. Zu meinem Bedauern habe ich sie nie getroffen. Ich habe für mich die zwanzigjährige Nilufar Chalidian erschaffen. Sie basiert kein bisschen auf der Gestalt von Laleh Seddigh, von der ich nichts außer dem Bild kenne, das in den Medien von ihr gezeichnet wird. Chamad dagegen fußt ganz entschieden auf David, meinem eigenen Kater, und auch ein bisschen auf Kima, die er dieses Jahr adoptiert hat. Die drei verbindet nicht nur das rötliche Fell. Alle übrigen – menschlichen Figuren – sind reine Fiktion. Auch der Film «Schaidas Leiter» existiert nur im Roman. Das Feuer am 20. August 1978 löschte das Rex-Kino in Abadan während der Vorführung des Films «Die Gazelle», ein Film des legendären Mas’ud Kimiayi. In den folgenden Monaten wurden einhundertachtzig Kinos verbrannt oder geschlossen. Die persischen Wörter ebenso wie die Namen in diesem Buch wurden so zuverlässig und originalgetreu wie möglich übertragen.
Schreiben ist für mich eine Gelegenheit, mich in Erfahrungen zu flüchten, die ich versäumt habe oder nicht machen durfte, an Orte, die ich nicht sehen konnte und möglicherweise nie sehen werde, zu Menschen, die mir verwehrt bleiben – und dabei prüfe ich mich selbst, wie mein Leben mit ihnen, in ihrer Haut, aussehen würde.
Einen Monat nach Beendigung des Buches kamen die Wahlen im Iran. Die Untergrundstadt erzitterte, schwappte für einen Augenblick an die Oberfläche. Ich schrieb meinen Freunden dort: Riskiert nichts. Doch sie waren stark genug, anders zu denken. Ich schrieb über sie und
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