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Der geheime Basar

Der geheime Basar

Titel: Der geheime Basar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ron Leshem
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den Besten gehören. So malten wir es uns aus. Und beschlossen jeden Abend aufs Neue: Nichts zu machen, Amir Teimuri und ich gehen fort. Kein Ozean trennte uns von den Wolkenkratzern Teherans, nur eine gewundene Straße und ein Gebirgsmassiv, doch wenn man vorwärts schwimmt, muss man überzeugt sein – es ist schließlich unmöglich, rückwärts zu schwimmen, wie Herr Ali Samimi immer zu sagen pflegte.
    Das war drei Jahre vor dem letzten Jahr, in welchem die Stadt ein schneereicher, mörderischer Winter lähmte, wie wir ihn seit 1352, also seit 1974, in der Provinz Gilan nicht mehr hatten. Und als der Frühling kam, starb Herr Ali Samimi. Danach kam der Sommer, heiß, feucht, unerträglich, brachte die Plastiksitze des Floßes zum Schmelzen und überschwemmte die Plätze mit Schweiß. Wer wartete nicht darauf, dass dieser Sommer verginge?
    Und genau vor einem Jahr, in den letzten Stunden des Schahriwar, in der zweiten Septemberhälfte, hielten wir am Tachti-Stadion zu unserem ganz persönlichen Schlusspfiff an. Wir waren aufs Fahrrad gestiegen, um uns von der Stadt des Regens zu trennen, und an unseren Rücken leckten die Winde des Hafenbeckens, stachen mit salzigen Tropfen. Weinrote Wolken krochen zur Promenade und zogen einen dichten, dunklen Schweif hinter sich her, der sich ausdehnte wie eine dunkle Welle, die zum Sand schwappte. Der einen Schatten über den Uhrturm warf, über den Palmenplatz, und die knalligen Sonnenschirme des Basars zuklappte. In den Höfen war es fröhlich, alle Türen standen offen, bunte Lichterketten, die sich seit Schabe jalda, der längsten Nacht des Jahres, zwischen den Strommasten wanden. «Es wird keine Tage wie heute mehr geben», sagte ich. Ich wusste, wir durften auf keinen Fall glauben, es könne sie geben. Mein Herz raste, denn ich hatte Angst, es zu bereuen. Und ich verspürte bereits Sehnsucht, nach den Lotusblüten, nach den Wasservögeln, nach dem herben Geruch verbrannten Gummis bei den Fabriken. Amir redete pausenlos, wollte noch einmal den ganzen Plan herunterbeten, wann, um Mitternacht, aber wo, an welcher Stelle würde man sich sammeln und wie genau fahren, wie viele würden noch dabei sein, und was hieße es, dass wir dann und dann ankämen, wo kämen wir denn überhaupt an – als würde er sich leichter selbst überzeugen, wenn der Weg im Voraus bekannt war.
    Als es dunkelte, begruben wir das orangefarbene Schnellboot unter der Hütte des verblichenen Herrn Ali Samimi. Die Blechbüchse, die er verlassen hatte, blieb erstickt in einem Dickicht aus gelbem Unkraut zurück, sogar das blaue Fenster war von aggressiven Kletterranken zugewuchert. Dort wollten wir das Floß, angebunden an einen alten Eisenschwimmer, bis zu unserer Rückkehr lassen. Aber wir würden ja nicht zurückkehren, Menschen schwimmen nicht rückwärts. Doch warten sollte es dort auf uns, es war gut zu wissen, dass es da war.
    Nach Sonnenuntergang kletterten wir auf die Katschian-Brücke, unter der weich fließende, gelbe Lichterschlangen im Wasserstrom den Kai entlangtanzten. Amir ließ auf einmal den Kopf hängen. Er wölbte die Brauen wie ein gutmütiger Tiger, der gerade aus Versehen eine ganze Lämmerherde verschlungen hat und zerknirscht vor dem Schäfer steht.
    «Was ist los?», fragte ich.
    «Nun, was ist wohl los? Ich bleibe hier.»

1
    Ein rosa Bus entließ mich gegen Morgen am Argentina-Platz, hinter einem Beet mit dicken, glockenförmigen Tulpen. Ich fand es eine Beleidigung, dass die öffentlichen Toiletten dort sauberer waren als bei uns zu Hause. Und auch die Mülleimer von einem kräftigeren Rot, und die Antenne des Milad Tower durchstach die Federwolken wie ein Raumschiff mit gezückter Lanze. Zögernd schritt ich die Bukareststraße hoch, spiegelte mich in Mauern aus Glas, kämpfte vor dem blankgeschliffenen Nokia-Gebäude mit meinen Haaren, die vom Nachtwind zerzaust und vom grauen Dunst des Morgenanbruchs verklebt waren. Ich ging Richtung Süden, nun war es klar und kühl. Ich studierte die Kleider der Schaufensterpuppen – gestreifte Hemden, das war gut, Orange, viel Orange, und schwarze Gürtel, ausnahmslos mit breiter Schnalle. Ein Graffiti sprang mich auf Englisch an: «Fuck You.»
    Ich war angespannt. Der lange, schmale Kletterrucksack drückte, der Hüftgürtel scheuerte, die grüne Tasche verkrümmte meine Haltung. Ich versuchte, mich an Kreuzungen und Straßen zu erinnern und an Wohntürme, die sich wie magere Staubhügel gegen die drohend endlose Horizontlinie der

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