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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Bedürfnis nach einem Versammlungsort für Kinder und Jugendliche dringender als der Wunsch nach etwas mehr Speck an den Sonntagen. Es gab zwar eine Kapelle, aber sie war für die vielen Söhne und Töchter der Gemeinde zu abgelegen. Vor allem für die Kinder der Landarbeiter
auf dem großen Herrenhof, der ein Stück von uns entfernt lag.
    Ich weiß noch, wie sie sich um Vater drängten. Sie waren barfuß, hatten magere Gesichter und oft noch struppigere Haare als ich, sie hatten Hautkrankheiten und trugen verschmutzte Kleider. Vater bedachte sie mit getrockneten Apfelscheiben und einem freundlichen Wort, einem Streicheln über den Kopf und nicht selten einer schönen Melodie. Er konnte nicht nur Choräle singen, sondern auch Volkslieder aus der Gegend.
    In Vaters Augen war ich als die Tochter, nach der er sich so lange gesehnt hatte, ein Segen. Er war stolz auf seine Söhne, mich verwöhnte er. Während die Jungen sich auf dem Feld abmühten, unternahm er mit mir einen Streifzug durch den Wald und zeigte auf Maiglöckchen oder Hasen. Das Göttliche war nicht nur im Himmel zu finden, sondern auch zwischen den Bäumen und im Atem der Pferde.
    Eines Tages kamen wir auf eine Lichtung. Vater setzte sich ins Gras, lehnte sich an einen Baumstamm und wäre fast eingeschlafen. Ich legte mich neben ihn und musterte sein fleckiges Hemd und seine immer warmen Hände. Plötzlich hörte ich ein Geräusch und drehte den Kopf. In unserer Nähe hatten sich einige Kohlmeisen niedergelassen. Ich stupste Vater an, er wachte auf und sah dasselbe wie ich. Er lachte leise, kramte in seinen Taschen und holte einige Brotkrümel heraus.
    »Komm her, Jonas, dann kriegst du was«, sagte er und lockte einen der Vögel, die am weitesten hinten saßen. Bei Vater hießen Vögel immer Jonas. Ich lernte, dass ein Menschenname für viele Schnäbel reicht. Mutter sagte immer, Vaters Liebe zu den Vögeln bedrohe ihre Beerensträucher, und er sei selbst eine Kohlmeise, so sehr, wie er Käse liebte. Und doch war es Mutter, die jeden Abend die Vogelbadewanne zwischen den Steinplatten füllte.

    Am Tag, als der Gebetssaal vollendet wurde, kaufte uns Vater Stoff für neue Kleider. Der Saal hatte siebzig Sitzplätze und noch mehr Stehplätze. Bänke und ein kleines Rednerpult hatte Vater mit Hilfe des Tischlers angefertigt, und die Leute strömten herbei, um Gottes Wort zu hören. Das schlichte Rednerpult stand allen offen, von Frischbekehrten bis zu emsigen Laienpredigern. Oft hallte der Gesang über den Hofplatz bis zum Herrensitz. Ich schlich mich zwischen den Stühlen umher, setzte mich dort, wo Platz war, und versah mich mit geistiger Labsal und unschätzbarem Wissen über den menschlichen Charakter.
    Für Mutter bedeutete das viel Mühsal. Jeden Sonntag füllten Saal und Wohnung sich mit Kindern und Erwachsenen, die Schmutz und Kot hereinbrachten, Schnee und Kies, und manchmal musste der Boden von unten abgestützt werden, wenn es zu viele waren. Mutter lag auf den Knien und fand es selbstverständlich, dass nicht nur ich, sondern auch meine Brüder beim Scheuern für das allgemeine Seelenheil halfen.
    »Ob das Frauenarbeit ist oder nicht, ist mir egal. In Gottes Reich sind wir alle gleich«, sagte sie oft. Meine Brüder murrten, kratzten Scheunendreck von den Stühlen und schrubbten den Boden. Ich drückte mich nach Möglichkeit vor dieser leidigen Arbeit. Stattdessen schlich ich mich die Treppe zum Gebetssaal hoch, der am spannendsten war, wenn er leer war.
    Eines Tages zog ich einen Schemel vor das Rednerpodium und trat einer fiktiven Gemeinde gegenüber. Ich schaute über die leeren Bankreihen hinweg, versuchte mir vorzustellen, dass alle mich ansahen. Ich fühlte mich siegesbewusst, vielleicht sogar bekehrt. Bekehrt, dieses kleine Wort, das im Gebetssaal so oft fiel und offenbar der Schlüssel zu einem anderen Leben war. Diese Bekehrung schien mir ein Gefühl zu sein, wie wenn man sich einen großen Löffel Reisbrei in den Mund schob.

    Ab und zu beendete einer der glühendsten Prediger seine Rede mit einer hoffnungsvollen Aufforderung.
    »Schließt alle die Augen. Und wer nun Gott begegnet ist, jetzt, wo ich für euch gepredigt habe … möge die Hand heben.«
    Vermutlich sollte der Prediger auch die Augen schließen, aber da diese Aufforderung so oft wiederholt wurde, konnte ich mir schon als kleines Kind ausrechnen, wie dabei geschummelt wurde. Der einzige Grund für die Wiederholung musste doch sein, dass sich niemand gemeldet hatte.
    Ab und

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