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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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sondern nach denen, die man nicht sieht, denn die sichtbaren Dinge sind endlich, doch die unsichtbaren sind ewig.« Ich streckte die Hände zum Feuer aus und versuchte, nicht zu Anton hinüberzuschauen. Er verunsicherte mich.
    Als Vater zu lesen aufgehört hatte, fragte er Anton, was er an der Westküste gemacht habe. Wir erfuhren, dass er mit vierzehn als Schiffsjunge nach Marstrand geschickt worden war. Seine Eltern waren arm. Die Ausbildung als Schiffsjunge sahen sie als Möglichkeit, dem Jungen den Schulbesuch und den Aufstieg zum Unteroffizier zu ermöglichen. Früher wurden die Schiffsjungen in Karlskrona ausgebildet, aber es waren zu viele geworden. Außerdem erschien Marstrand der Marineleitung wegen seiner geographischen Lage als ideale Lehrstätte. Die Militärs wollten Fischerssöhne anlocken, doch die Jungen von der Küste wollten lieber ihren Vätern nachfolgen. Zur Marineausbildung meldeten sich stattdessen Bauernsöhne und Arbeiterkinder, vor allem aus Norrland. Menschen, denen nichts Besseres einfiel.
    Anton erzählte, dass er und die anderen Jungen, keiner älter als vierzehn, auf einer ausrangierten Korvette namens Norrköping einquartiert worden waren. Sie hatten einen Kojenplatz bekommen, eng und schäbig. Tagsüber lernten sie oben in der Festung Carlsten lesen, schreiben und rechnen, frei hatten sie
nur einige Abendstunden. Im Sommer leisteten sie alle Dienst auf Segelschiffen in ganz Europa.
    Anton verließ Marstrand, so bald er konnte. Er fühlte sich wohl auf dem Meer und kam mit den Kapitänen und wohlgesinnten Lehrmeistern gut aus. Aber niemals würde er die Offiziere vergessen, die einige seiner Kameraden gequält hatten, einfach, weil sie ihre Macht genossen. Einer hatte eine ganze Nacht lang das Deck scheuern müssen. Ein anderer war mit Essensentzug bestraft worden und hatte nach einer Weile angefangen, Blut zu erbrechen.
    Vater schüttelte den Kopf und murmelte, es sei eine Sünde und Schande, dass arme Familien ihre Söhne wegschicken müssten. Mutter schien mit den Jungen mitzuleiden. Sie meinte, sie habe nie gewusst, welchen Sinn es haben solle, zu den Waffen zu greifen. Die Politiker sollten sich wichtigeren Fragen widmen, statt ständig über die Armee zu reden. Anton starrte ins Feuer und sagte, ihm sei schon lange klar, dass man sich gegen Unterdrücker wehren müsse und dass es nicht die Schuld der Armee sei, wenn Einzelne ihre Stellung missbrauchten. Dass es jederzeit knallen könne, wüssten alle. Die Russen lägen auf der Lauer. Sie trieben sich im Land herum und böten den Bauern Hilfe beim Sägenwetzen an. Die Deutschen hätten ihre Pläne, die Engländer führten in den Kolonien Kriege. Deshalb müsse sich Schweden erheben, wenn Gefahr drohe. Ich dachte an meine Brüder und daran, dass wir bei uns zu Hause nie zuvor über Krieg gesprochen hatten.
    An den folgenden Tagen schwebte Anton wie ein Schatten zwischen uns und unserer Arbeit umher. Als ich mich eines Morgens nach oben schlich, hörte ich, wie er ein kurzes Gebet herunterleierte, um dann auf seinem Banjo zu spielen. Anschließend arbeitete er mit Vater auf dem Hof. Anton sägte Eisblöcke zurecht, die er in die Scheune trug und mit Sägespänen
bedeckte, damit sie nicht schmolzen. So konnten wir noch lange Stücke abhacken, um damit Speisen und Getränke zu kühlen. Die schwere Arbeit schien ihm nichts auszumachen. Er sang Choräle und machte Mutter Komplimente wegen ihres Essens, wenn sie vorbeikam.
    Sie hatte sich nach zwei Tagen an den fremden Gast gewöhnt und akzeptiert, dass er anders über Tanz dachte.
    »Es ist bewundernswert, dass ein junger Mann allein versucht, sich im Leben zurechtzufinden. Leicht kann er es auf Marstrand nicht gehabt haben«, sagte sie eines Abends zu Papa. Dann ging sie nach oben und stellte einen Teller mit Weißbrot neben Antons Bett.
    Am Samstagabend ging ich allein nach oben. Zu Beginn der Weihnachtsferien war ich in meinem guten Kleid fotografiert worden. Zu Hause bat ich, es nicht gleich ausziehen zu müssen, vor allem, um mich vor dem Putzen zu drücken. Ich trug es noch immer, als ich in den Gebetssaal ging.
    Es war dunkel, aber ich hatte eine Petroleumlampe und ein Gesangbuch bei mir, um mich auf die sonntägliche Andacht vorzubereiten. Das Holz des Klaviers war gemasert, seine Tasten funkelten im Lichtschein. Ich stellte die Lampe ab, schlug das richtige Lied auf und fing an zu spielen und zu singen. »Breite deine Schwingen, oh Jesus, über mich.« Die Schatten auf den

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