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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Westküste gelebt und sei jetzt auf dem Weg nach Norden, um sein Studium der Theologie aufzunehmen. Er war ein überzeugter Christ und interessierte sich für die Baptistenbewegung von Frillesås, mit der auch meine Eltern sympathisierten.
    Er war aber nicht wie die anderen. Wie die Baptisten predigte er Toleranz in Verantwortung, meinte aber auch, man dürfe zu Musik und Gesang tanzen, und hatte nichts gegen eine Runde
Kartenspiel mit nüchternen Freunden. Er hatte einen Umweg gemacht, um uns zu besuchen. Er hatte von dem Gebetssaal gehört und hatte mit eigenen Augen dieses großzügige Geschenk sehen wollen, das den Menschen in der Umgebung dieses Hofes zuteil geworden war.
    »Ich weiß nicht, ob wir wirklich so großzügig sind. Wir versuchen einfach, Menschen zu helfen, die in ihrem Leben Gottes Frieden brauchen, da der Mensch nicht schlecht geboren ist«, sagte Vater und lud Anton in unsere Küche ein, wo Mutter gerade Kartoffelsuppe kochte.
    Anton reichte ihr die Hand und antwortete, wahre Mitmenschlichkeit erkenne man an ihrer Demut. Er selbst habe niemals von etwas Ähnlichem gehört und auch noch nie eine so gutaussehende Hausmutter erlebt.
    »Da haben wir ja einen großzügigen Mann ins Haus bekommen«, sagte Vater. Ich konnte hören, dass das ein Scherz war.
    »Du bist wohl ein glücklicher Mann, der nicht über die Erbsünde redet«, gab Anton zurück.
    Mutter schaute ihn an und sagte, dass Bilder des Herzens mit sündigen Samenkörnern sie an Mäusedreck erinnerten. »Den kann man doch ganz leicht wegfegen.«
    Anton zeigte lachend auf die Narbe, die sich über einem seiner Mundwinkel die Wange hochzog. Die Schramme fiel nicht weiter auf, er hatte gutes Heilfleisch, was eine schlimmere Wunde verhinderte. Aber jemand hatte ihm eine Erinnerung fürs Leben verpassen wollen. Zu seinem Glück war nichts Schlimmeres passiert.
    »Weshalb hast du dich geprügelt?«
    Ich hätte nicht fragen dürfen. Mit dreizehn hätte ich stumm auf der Küchenbank sitzen müssen. Mutter warf mir einen vernichtenden Blick zu, aber ich achtete nicht auf sie, wie sie am Herd stand, obwohl Anton recht hatte. Mutter war schön, mit
ihrem dicken Zopf, den sie sich um den Kopf gelegt hatte, und mit der eng um die Taille gebundenen Schürze. Trotz sechs Kindern war sie immer noch schlank. Aber ich wollte ihre warnenden Blicke nicht sehen, und auch nicht ihre abgearbeiteten Hände, die zeigten, wie erschöpft sie wirklich war.
    »Weshalb ich mich geprügelt habe?« Anton schien darüber nachdenken und seine Worte wägen zu müssen. »Ich glaube, es ging um eine Frau«, sagte er. »Ich hatte ein wenig zu viel getrunken und wollte mit einer Frau tanzen, die auch mit mir tanzen wollte. Dann kam ein anderer Mann und erhob Anspruch auf sie, und das ließ ich mir nicht gefallen.«
    Für kurze Zeit war alles ganz still in der Küche. Mutters Arm erstarrte , meine Brüder sprachen nicht mehr über Roggenpreise.
    »Verzeihung. Ich rede über Dinge, die ich vor den Ohren der Kleinen nicht hätte erwähnen dürfen. Inzwischen glaube ich ja an Gott und habe auch keinen Schnaps mehr getrunken. Aber ich tanze immer noch gern.«
    Anton zeigte auf einen Kasten, den er bei sich hatte, und zog das Instrument heraus. Das Banjo war das Seltsamste, das ich jemals gesehen hatte. Aber als Anton einen Fuß auf einen Stuhl stellte und einige Akkorde anschlug, fing es in der Ecke an zu funkeln. Die Saiten klangen metallisch und die Melodie fröhlicher als die Choräle. Wir applaudierten, als er fertig war. Mutter äußerte zu meiner Überraschung den Wunsch, mehr zu hören. Mir schien das Banjo gut zum Klavier zu passen.
    Vater räusperte sich, und bald saßen wir alle am Tisch. Anton aß die Suppe, die er lobte. Mutter hatte ein altes Bett oben auf dem Dachboden für ihn bezogen. Dort war es zwar zugig und kalt, aber er hatte alle anderen Schlafplätze abgelehnt. Sein einziger Wunsch war, einige Tage bleiben zu dürfen, um die sonntägliche Andacht mitzuerleben. Und ob er
denn für die freundliche Aufnahme bezahlen dürfe? Das durfte er. Vater konnte auf dem Feld und im Stall immer Hilfe brauchen.
    Abends saßen wir in der Stube vor dem Feuer. Draußen schneite es. Die Flocken fielen langsam, aber unerbittlich. In dem Reif, der die Fenster bedeckte, konnte man mit den Fingernägeln herumritzen. Eine Wand war von der Petroleumlampe verrußt. Die Glut knisterte, während Vater aus der Bibel vorlas: » … zu uns, die nicht nach den Dingen streben, die man sieht,

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