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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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geputzt und dabei eine Maus gesehen, die vorüberhuschte und sich in der Ecke hinter einem Schemel und einigen Zeitungen versteckte. Mårten hatte vorsichtig die Ecke geleert. Am Ende hatte er die Maus gefunden. Aber sie hüpfte einfach in die Luft, machte eine halbe Drehung um sich selbst und fiel tot zu Boden.
    Sie muss bei meinem Anblick einen Herzanfall erlitten haben.
    Mårten hatte am Telefon gelacht. Sie hatten beide gelacht. Ohne zu ahnen, worüber. Ein Herz, das nicht mehr wollte.
    Sie ging wieder zum Kaminfeuer und sank in sich zusammen, unfähig, klar zu denken. Bei völliger Dunkelheit stand sie auf und schloss die Haustür ab. Den Abwasch verschob sie auf den nächsten Tag. Niklas hatte für fast alles gesorgt. Es war lieb von ihm gewesen, hereinzuschauen. Sie hatte vergessen zu fragen, ob er mit der Fähre oder seinem eigenen Boot gekommen war.
    Sie ging ins Badezimmer und putzte sich die Zähne. Im Schlafzimmer zog sie sich aus und kroch ins Bett, mit der Strickjacke ihres Vaters als zusätzlicher Decke. Jetzt hörte sie das Pochen. Irgendwo schlug eine Tür, aber dann nahm sie noch etwas anderes wahr. Das Herz des Hauses fing an zu schlagen. Seltsam, aber so war es. Es hatte abgewartet und jetzt wieder eingesetzt.
    Nicht einmal ein Haus hat Ruhe vor seiner Vergangenheit.
     
     
     
    »Während der ersten Phase des Kampfes folgte ein phantastischer Triumph auf den anderen. Wir hatten eine Seeschlacht in ihrer ganzen wilden Großartigkeit erlebt. Nun aber stellten sich ihre Schrecken ein.«
     
    Georg von Hase, Erster Artillerieoffizier des deutschen Schlachtschiffes Derfflinger

Kapitel 3
1959
    Auf dem Nachttisch steht ein schwarzweißes Foto. Die blonden Haare des Mädchens darauf sind mit einer Schleife hochgebunden. Sie trägt ein Kleid mit vielen Falten, Spitzenkragen und einem Gürtel um die Taille, ihre Schnürstiefel sind schwarz. In der Hand hält sie eine Papierrolle. Ihr Blick ist fromm und frech zugleich. Auf einem Stuhl liegen Rosen zur Dekoration. Vielleicht waren sie rosa. Das weiß ich nicht mehr.
    Ich war dreizehn, hatte soeben mein Zeugnis erhalten und wurde vom Fotografen verewigt. Jetzt steht das Foto hier im Krankenhaus, damit die Weißkittel begreifen, dass ich einmal etwas anderes war als dieser magere Rest von heute. »Sind Sie das? Sie waren aber hübsch«, hat erst kürzlich eine von ihnen zu mir gesagt. Ja, das war ich wohl. Und die Erinnerung an jenen Tag wird auf den Wiesen umhertollen, wenn ich nicht mehr atme.
    Meine früheste Erinnerung jedoch gehört den Engeln. Sie waren mein erster Anblick, wenn ich morgens die Augen aufschlug, und der letzte, den ich aus dem Wachzustand in den Schlaf mitnahm. Ich beneidete sie und ärgerte mich zugleich über sie. Ihre ordentlichen Locken sahen aus, als würden sie gerne gekämmt.
    Meine Haare waren immer schon wild und üppig. Als Mutter mich herausgepresst hatte, waren alle davon fasziniert, die
Hebamme und die Nachbarinnen, und natürlich Vater, als er endlich das Schlafzimmer betreten durfte. Ich hatte mir Zeit gelassen, mich während der Wehen wieder zurückgezogen. Aber als ich dann endlich da war, gesund und makellos wie die allerbeste Ware, war alles vergeben und vergessen. Der gottgegebene kräftige blonde Schopf gab mir ein engelhaftes Aussehen, und das wiederum ließ Vater und Mutter in Dankesgebete versinken für das Wunder, das ich nach der Geburt von fünf Söhnen war.
    Sie tauften mich auf den Namen Rakel, nach der schönsten Schwester in der Bibel.
    Meine Haare wuchsen schneller als ich. Mutter arbeitete mit Kamm und Bürste, während ich protestierte und mich davor drücken wollte. Vater ließ nicht zu, dass ich mir die Haare abschnitt, obwohl er sonst alles für mich getan hätte. Die Gebete um eine Tochter waren erhört worden, und so hängten sie Engel an die Wand neben meinem Bett. Mit ihren Flügeln konnten sie fliegen, wohin sie wollten. Anders als ich.
    Aber ich hätte Gott, hieß es. Wie wir alle Gott hatten. Das sagten Mutter und Vater, die seit ihrer religiösen Erweckung alles taten, um die christliche Botschaft zu verbreiten. Das Haus, in dem sie als Jungverheiratete gelebt hatten, wurde für die wachsende Kinderschar zu klein. Vater beschloss, ein größeres Haus zu bauen und im Obergeschoss einen Saal einzurichten, der als Sonntagsschule und Andachtsraum genutzt werden konnte. Das bedeutete ein großes Opfer, da der Hof nicht allzu viel einbrachte. Aber sein Glaube war stärker als der Appetit, und das

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