Der geheime Brief
zu erbarmte ich mich. Wenn die Aufforderung zum dritten Mal erfolgte, hob ich eifrig die Hand. Beim ersten Mal war ich wohl erst sechs, was bedeutet, dass ich häufiger meine Bekehrung gestanden habe als der schlimmste Sünder seine Sünden. Das ging immer gut, bis Mutter mir auf die Schliche kam.
»Mit Bekehrung und Erlösung darf man keine Witze machen, sondern dankbar dafür sein«, sagte sie und schickte mich auf den Hof. Vor der Tür hörte ich dann, wie sie drinnen betete, aber nicht für meine Seele, sondern um gutes Wetter, damit sie die Ernte rechtzeitig einholen könnten. Ohne Nahrung keine Erlösung. Mutter war Realistin.
Aber ich fand es lieb von Gott, dass er einen reichen Mann aus der Gegend dazu überredete, unserem Gebetssaal ein Klavier zu stiften. Als es auf einen Karren gebunden eintraf, standen wir alle daneben. Das Pferd machte vorsichtige Schritte, als sei es sich seiner Verantwortung bewusst. Meine Brüder und Vater halfen, das Klavier die Treppe hochzuschaffen.
Eine Frau vom Nachbarhof hatte von einem Wandertheater, das einige Wochen bei ihr in der Scheune hatte wohnen dürfen, ein wenig spielen gelernt. Sie konnte eine Begleitung zu den Chorälen zusammenklimpern. Das reichte aus, um unsere Andachten zu himmlischen Höhen zu erheben. Wenn ich
allein war und niemand auf mich aufpasste, ging ich oft nach oben und streichelte das schöne Instrument. Ich liebte die Vorstellung, dass alle Töne benötigt wurden, um einen universellen Klang zu schaffen, und beschloss, dass ich lernen würde, dieses Klavier zu beherrschen, das uns so unverhofft geschenkt worden war.
Die Nachbarin bemerkte mein Interesse und brachte mir die Namen der Töne, einige Tonleitern und einfache Begleitungen bei. Schon bald gehorchten die Töne mir mehr als ihr. Mit leisem Murren, aber nicht unwillig, überließ sie mir das Spiel. Das fanden alle gut, meine Eltern waren stolz, und meine Brüder schüttelten lachend den Kopf. Das passierte mir oft, dass die anderen den Kopf schüttelten und lachten.
Ich weiß nicht, ob es an mir noch etwas zu lachen gibt. Es ist schwer, allein dazuliegen und nachzudenken. Die Stille ist deutlicher zu hören als jedes Geräusch. Hier im Krankenhaus sprechen sie langsam und deutlich, damit ich sie verstehe. Sie wollen mich dazu überreden, in den Aufenthaltsraum zu gehen, um mir schlechte Musik anzuhören. Sie begreifen nicht, dass alle schweigsamen, kranken und alten Menschen ihr Leben noch einmal leben müssen, und sei es nur in Gedanken und Träumen.
Ich sehe die schmutzig gelben Wände und den Plastiktisch, den unbequemen Sessel und die grell gemusterten Vorhänge in meinem Zimmer. Aber wenn ich die Augen schließe, erblicke ich Flickenteppiche und Petroleumlampen. Ich kaue auf Industriefleisch herum, nehme aber den Geschmack von Hering und selbstgepflückten Preiselbeeren wahr. Ich muss alles noch einmal erleben, damit ich es verstehen kann. Meinetwegen. Ihretwegen. Ich weiß, dass es ein Mädchen wird, auch wenn niemand außer mir von diesem Menschen weiß, der gerade zu wachsen begonnen hat.
Deshalb muss ich mich konzentrieren. Ich denke an das Jahr 1911, als ich dreizehn wurde und in einem weißen Kleid fotografiert wurde. Die Arbeiter streikten. Gustav III. hatte den Thron bestiegen, neue Zeiten würden anbrechen. Auf unserem Hof bekamen wir Besuch von einem Mann, an den ich mein Leben lang mehr gedacht habe, als mir lieb war. Ob Gott mich dadurch kennenlernen oder mich herausfordern wollte, kann ich noch heute nicht sagen. Als Anton durch die Tür kam, verschwand der unbekümmerte Glaube daran, dass das Leben einfach ist und am Ende eine Lösung findet, wie in einem Bilderrätsel. Viel zu spät habe ich begriffen, dass Gott mit dem, was dann passierte, vielleicht gar nichts zu tun hatte. Dass ich selbst die Verantwortung trug. Wenn nicht für meine Gefühle, dann zumindest für meine Taten.
Anton kam an einem Montagabend zu uns. Wenn ich sage, dass ich mich sofort zu ihm hingezogen fühlte, hört sich das an wie eine Phrase aus einem der Romane zu fünfundzwanzig Öre, in denen Gefühle zum Kilopreis verkauft werden. Aber »verliebt« hört sich noch schlimmer an als Reisbrei und Bekehrung, also bleiben wir bei »berührt«. Anton war siebzehn Jahre alt, trug weite Hosen und einen übelriechenden Rock. Er hatte dunkle Haare und einen Blick so rußig wie der Kachelofen. Er stellte sich als Anton Rosell vor und erzählte, er komme aus der Nähe von Stockholm, habe an der
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