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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Ihn von mir umarmen? Lässt du von dir hören?«
    »Natürlich mache ich das. Vielen Dank für alles. Ich bin froh darüber, dass du es mir erzählt hast.«
    Im Rückspiegel sah sie, dass er stehenblieb und so lange winkte, wie er sie sehen konnte. Sie bog um die Ecke und fuhr an den Straßenrand, als sie außer Sichtweite war. Dann schickte sie eine neutrale SMS an Niklas und teilte mit, dass sie ihren Vater besuchen wollte.
    Sie brauchte zwei Stunden für die Fahrt zu dem Pflegeheim, das ungefähr auf der Mitte zwischen Onkel Ivars Haus und ihrer Wohnung in Stockholm lag. Sie hatten das nach einer Weile so arrangiert, als klar geworden war, dass der Zustand unabänderlich war und die Entwicklung nur in eine Richtung gehen
konnte. Das Autoradio summte im Hintergrund, als sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie alles gewesen war. Die stets düstereren Gedanken ihres Vaters. Seine stummen Phasen. Das Gefühl, dass er für alles länger brauchte, dass er kein Essen mehr einkaufte, nicht tankte, seinen Haushalt vernachlässigte.
    Es kam ihr so vor, als sei das noch gar nicht lange her, und dabei waren es mehr als zehn Jahre. Ob zuerst die Depression kam und dann der Schlaganfall oder ob es umgekehrt war, konnte eigentlich niemand wirklich beantworten. Gemeinsam hatten sie ihn jedenfalls besiegt, und zwei Jahre darauf hatte er in ein Pflegeheim übersiedeln müssen. Damals war sie verzweifelt gewesen, jetzt jedoch dankbar, weil es eben doch so gut gegangen war. Er hatte sein Zimmer, seine Pflege und die ärztlichen Untersuchungen. Und er bekam Besuch, von Onkel Ivar, Solveig und den anderen Verwandten, von ihr selbst. Ob er das zu schätzen wusste? Sie hätte es so gern gewusst. Aber es war mehrere Jahre her, dass er überhaupt ein einziges kleines Wort geäußert hatte.
    Sie erinnerte sich gut daran, wie sie und Mårten dem Krankenwagen gefolgt waren, der ihren Vater zu dem Heim bringen sollte, das aller Wahrscheinlichkeit nach sein letztes sein würde. Sie hatte auf dem ganzen Weg geweint. Mårten ließ sie und versuchte nicht, sie zu trösten. Als sie sich beruhigt hatte, war er auf einen Parkplatz gefahren, hatte angehalten und sie umarmt.
    »Du hast alles getan, was du tun konntest. Mehr war nicht möglich«, sagte er immer wieder. Irgendwann hatte sie das akzeptiert und sich klargemacht, dass sie sich wirklich eingesetzt und um alles gekümmert hatte, zu Hause und bei den vielen Besuchen im Krankenhaus. Sie konnte nicht mehr gegen die Unerbittlichkeit des Lebens kämpfen, und sie hatte Erinnerungen genug. Auch das hatte Mårten gesagt. Es hatte ihr geholfen, ihren Vater in dem neuen Zimmer unterzubringen und bis zum
Abend zu bleiben, um die Hand ihres Vater zu nehmen und zu halten, ehe sie ihn verließ, in der, wie sie zutiefst hoffte, kompetenten Obhut des Personals.
    Auf dem Heimweg schien ihr, dass sie nur einen Körper im Pflegeheim hinterlassen hatte, und sie hatte auf eine Geste von oben gehofft. Einige Wochen darauf war diese Geste gekommen. Ihr Vater hatte während ihres Besuchs kein Wort gesagt. Aber als sie ging, entdeckte sie einen Vogel, der in einem Baum saß und sang.
    Sie hatte bestimmt eine Viertelstunde zugehört, wie der Vogel seine Töne produziert hatte, und das als das erbetene Zeichen aufgefasst. Die Seele ihres Vaters konnte noch immer singen, und das machte alles erträglich, zumal sie Mårten an ihrer Seite hatte. Ob die Trauer, die jetzt ihren Gemütszustand prägte, eine Mischung aus der alten geronnenen Trauer um ihren Vater und der neuen um Mårten war, wusste sie nicht. Jemand mit Durchblick hätte ihr sicher sagen können, dass es so sei, und das wäre ihr doch nicht die geringste Hilfe gewesen.
    Im Foyer blieb sie stehen und schaute ins Restaurant mit der mittelmäßigen Kost. Sie hatte sich schon so oft durch die Speisekarte gegessen, dass sie sie auswendig wusste. Frikadellen mit Preiselbeergelee. Griechischer Salat. Riesige Ciabatte mit einer Scheibe Schinken und einer Scheibe Käse im Spalt. Sie roch die Mischung aus lauwarmem Essen und Desinfektionsmitteln und ging zur Toilette, um sich die Hände zu waschen.
    Im Fahrstuhl nach oben zog sie ihren mentalen Schutzanzug an, ehe sie die Tür öffnen und eine Pflegerin anlächeln konnte. Sie blieb stehen und erfuhr, dass ihr Vater in seinem Zimmer war. Nein, seit ihrem letzten Besuch war nichts passiert, wie lange war das her, einige Wochen vielleicht? Eine kleine Magenverstimmung, aber die Untersuchungen müssten noch
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