Der geheime Brief
werden. In einer Stunde werde der Arzt vorbeischauen, dann könne sie mit ihm reden. Die Pflegerin nickte und sagte, im Speisesaal stünden Tee und Kaffee bereit, und sie könne dafür fünf Kronen in die Sammelbüchse werfen. Inga nahm sich einen Beutel Zitronentee und hielt ihn ins Wasser. Mit der Tasse in der Hand ging sie zum Zimmer ihres Vaters, ohne nach rechts oder links zu schauen, denn hinter den offenen Türen lagen blaue Frotteehügel auf den Betten und würden noch genauso daliegen, wenn sie wieder ging. Die Blumen, die sie unterwegs gekauft hatte, trug sie unter dem Arm.
Er saß am Fenster und schaute hinaus. Ob er wirklich etwas ansah, oder ob es nur eine Erleichterung für das Personal war, das zu glauben, war schwer zu sagen. Jetzt räusperte sie sich, um ihn nicht zu erschrecken, während sie die Tasse auf den Tisch stellte und die Blumen danebenlegte. Dann ging sie zum Rollstuhl und drehte ihn vorsichtig herum.
Ein Mann, der jedes Mal, wenn sie ihn sah, magerer wurde. Blonde Haarbüschel auf dem Kopf, dünner Hals, der aus der Jacke ragte. Trainingsanzug. Socken, Pantoffeln an den Füßen. Blaue Augen, wenn auch gedämpft, mit Weiß vermischt. Sie merkte, dass sie sich zusammenreißen musste, sich beherrschen, um keine Schwäche zu zeigen. Durch nichts durfte sie ihn merken lassen, wie verzweifelt sie über seinen Zustand war. Sie musste den Glauben an Besserung ausstrahlen, damit er selbst seinen Zustand akzeptieren konnte.
Sie umarmte ihn und spürte die Knochen unter seinen Kleidern. Glaubte oder hoffte, in den Armen eine leichte Bewegung zu bemerken, als wollte er die Umarmung erwidern. Sie ließ ihn los.
»Hallo, Papa. Du bist aber fein heute. Und die Haare sind frisch gewaschen.«
Seine Verzweiflung, als er seine Körperpflege nicht mehr im
Griff hatte. Deshalb gehörte zu jedem Besuch die Bemerkung, wie frisch und sauber er sei.
Sie zog eine Vase aus dem Regal, ließ Wasser hineinlaufen, stellte die Rosen hinein und hielt sie ihm unter die Nase.
»Die duften, Papa. Ich hab sie in dem Blumenladen in der Nähe von Onkel Ivars Haus gekauft, wo es so viele schöne Sachen gibt. Wenn du das noch weißt.«
Über alte, vertraute Dinge sprechen, so tun, als würden Fragen beantwortet. Vertraute Namen und bekannte Ereignisse erwähnen, auf gemeinsame Erlebnisse anspielen, das Wetter nicht vergessen. Das alles war ihr vor langer Zeit eingeschärft worden, und sie hatte es immer wieder gehört, von zahllosen Ärzten. Hatte sich an die Regeln gehalten und in diesen Jahren mechanisch über ihre Ausstellungen und ihre Freunde gesprochen, über Mårtens Arbeit und ihre Ferienreisen, über Peter und sein Medizinstudium. Sie hatte Fotos mitgebracht und für ihn Kleidung gekauft, mit Knöpfen vorn, leicht an- und auszuziehen. Sie hatte seine Rasierwasser- und Deo-Auswahl vervollständigt und immer denselben Duft gekauft, seinen eben.
Sie stellte die Blumen so auf den Tisch, dass er sie sehen konnte, und zog einen Stuhl heran. Sie setzte sich und nahm seine Hand, so, dass sie einander in die Augen schauten. Sie spürte einen leichten Druck und wusste, dass in widrigen Zeiten eigentlich nichts wichtiger war, als eine Hand halten zu können.
»Ich war eben bei deinem Bruder Ivar, Papa. Ich bin von Marstrand aus zu ihm gefahren, da wohne ich gerade. Ich musste einfach mal raus und mich ein wenig ausruhen. Nach dem Haus schauen. Das sieht gut aus.«
Der Blick ihres Vaters ruhte auf ihr, ohne zu sehen, wanderte durch ihre Augen, blieb irgendwo in der Trauer hinter den Augenlidern haften. Sie erzählte vom Fotografieren, von
Peter, der angerufen hatte, und stell dir vor, offenbar hat er eine Freundin. Sie erwähnte weder Mårten noch die Tatsache, dass sie allein war, und versuchte stattdessen, über fröhliche Essen in guter Gesellschaft zu erzählen. Er durfte nicht begreifen, dass sie zusammengebrochen war. Ich heiße Inga und das hat keine Bedeutung. Als sie, zwei Jahre zuvor, erwähnt hatte, dass Mårten tot war, war er so unruhig geworden, dass er eine beruhigende Spritze hatte bekommen müssen. Aber er hatte kein Wort gesagt.
Eine Ärztin hatte einmal erwähnt, dass sie glaubte, Johannes könne sprechen. Dass sie gehört zu haben glaubte, wie er im Schlaf vor sich hinplapperte, dass das Sprachvermögen noch vorhanden war, aber nicht genutzt wurde. Aufgrund seiner psychischen Krankheit. Aber wenn Inga das so deuten wollte, dass es Hoffnung gab, dann war es eben so. Vielleicht könnte das alles
Weitere Kostenlose Bücher